Filmtipp „Für die Vielen“: Im Dauereinsatz gegen die Ausbeutung
Unter Tränen berichtet eine Reinigungskraft am Empfangsschalter, wie ihr Chef versucht, sie nach 27 Jahren wegzumobben. Ein Bauleiter beklagt, dass er und seine versammelten Kolleg*innen seit Monaten keinen Lohn erhalten haben. Ein gehörloser Angestellter fühlt sich unterbezahlt. Sie alle kommen in einem einschüchternden Betonklotz am Rande der Wiener Innenstadt zusammen. Es ist ein Ort mit einem Versprechen: Aus Verzweiflung oder Wut wird Hoffnung.
Es handelt sich um die Arbeiterkammer Wien. Sie vertritt die Interessen von Arbeiter*innen und Angestellten. Seit mehr als 100 Jahren bietet sie Beratung und Rechtsbeistand bei arbeitsrechtlichen Fragen an und zieht für die Mandant*innen vor Gericht. Und das insbesondere bei Arbeiter*innen mit wachsendem Erfolg. Zum Wohle der Beschäftigten verfolgt sie zudem eine eigene sozialpolitische Agenda. Das schmeckt nicht jeder Regierung.
Stärkste sozialpolitische Opposition
Der Film von Constantin Wulff ist als Würdigung dieser mit öffentlichen Mitteln finanzierten Institution zu werten. Der Schweizer Filmemacher fühlte sich wegen des zugespitzten politischen Klimas während der ÖVP-FPÖ-Koalition unter Bundeskanzler Sebastian Kurz und der Rolle der Kammer als stärkste sozialpolitische Opposition dazu bemüßigt. Mit der Kamera begann er vor ein paar Jahren, Beratungsgespräche und Führungsmeetings in der Einrichtung zu dokumentieren und die Vorbereitungen für ihren 100. Geburtstag im Jahr 2020 zu dokumentieren.
Dann kam Corona. Die Wirtschaft, aber auch die Arbeiterkammer, gerieten in den Krisenmodus. Gleichzeitig ging es darum, die Bedürfnisse der Beschäftigten im Zeichen drohender Massenentlassungen und Kurzarbeit gerade jetzt zu verteidigen. Wulff musste einen neuen Fokus finden.
Kampf um die Rechte der Beschäftigten
Herausgekommen ist eine dokumentarische Erzählung aus dem Innenleben einer Institution, die zu einer Zeit, wo vieles Land im Land heruntergefahren wird, erst recht im ständigen Dialog mit Menschen bleibt, die befürchten, unter die Räder einer umfassenden Krise zu geraten. Von den Männern und Frauen, die in dem Komplex am Rande der Wiener Innenstadt vorstellig werden, haben besonders viele eine Migrationsgeschichte. Offenbar müssen gerade sie in der von der früheren Rechtsregierung „entbürokratisierten“ Wirtschaft um ihre Rechte kämpfen.
Das Geschehen in einer öffentlichen Einrichtung ist kein einfacher Stoff für einen Dokumentarfilm. Man muss den Menschen ganz nahekommen, wenn das Ganze nicht im Abstrakten verharren soll. Wulff hat diese Herausforderung recht überzeugend gemeistert, wohl auch dank seiner Erfahrung mit vergleichbaren Zusammenhängen.
Ein ständiger Balanceakt
In „Wie die anderen“ (2016) widmete er sich dem Alltag in einer österreichischen Kinder- und Jugendpsychiatrie. Auch in seinem neuen Film geht es um einen ständigen Balanceakt. Nämlich um den Versuch, mit einem großen Apparat und routinierten Abläufen auf individuelle Notlagen einzugehen, zumal unter Pandemiebedingungen. Zugleich ist die Arbeiterkammer damit beschäftigt, im neoliberalen Mainstream ein starker Akteur zu bleiben.
Mit den Mitteln des Direct Cinema lässt uns Wulff an Begegnungen und Besprechungen teilhaben: Nichts wurde inszeniert, Interviews oder ein Off-Text fehlen völlig. Auch die Kamera wirkt nahezu unbeteiligt. Und doch spiegelt sich in der Auswahl von Bildern und Geschichten eine gewisse Haltung wider.
Zur Nachahmung empfohlen
Nicht nur, aber gerade angesichts einer Laufzeit von zwei Stunden stößt die Aufbereitung des Themas aber auch an seine Grenzen. Der nur selten erweiterte, kammerspielartige Blick auf das Haus an der Prinz-Eugen-Straße bringt einige Längen und nur wenige dramaturgische Steigerungen mit sich. Bei den begrenzten Einblicken in menschliche Dramen am Behördenschalter ist zudem die Vorstellungskraft und Empathie der Zuschauenden gefragt: Zu den Betroffenen gibt es keine zusätzlichen Informationen, von Bildern aus ihrem Leben „draußen“ gar nicht erst zu reden.
Und doch bleiben einige Episoden insbesondere aus dem Beratungsgeschehen haften. Nicht zuletzt sie machen deutlich, dass die Arbeiterkammer Wien – wie auch die Arbeiterkammern in den anderen Bundesländern der Alpenrepublik - unbedingt nachahmenswert ist. In Deutschland gibt es Vergleichbares nur in Bremen und im Saarland.
Info: „Für die Vielen – die Arbeiterkammer Wien“ (Österreich 2022), ein Film von Constantin Wulff, 120 Minuten.
Kinostart: 27. April
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