Filmtipp „Evolution“: Der lange Weg zurück vom Trauma ins Leben
Traumatische Erfahrungen ziehen sich oft durch mehrere Generationen. Was ein Mensch durchgemacht hat, beeinflusst oftmals auch das Leben des Kindes und Enkelkindes. Viele Nachfahren haben Mühe, eine eigene Identität oder emotionalen Halt zu finden. Seit einigen Jahren werden diese Zusammenhänge, beispielsweise mit dem Fokus auf „Kriegskinder“ und „Kriegsenkel“, gründlich erforscht.
Das Kinodrama „Evolution“ untersucht dieses Thema anhand einer jüdischen Familie aus Ungarn. Dem ungarischen Filmemacher*nnen-Duo Kornél Mundruczó (Regie) und Kata Wéber (Drehbuch, beide sind bekannt für die Zusammenarbeit bei dem oscarnominierten Drama „Piece of a woman“) geht es dabei vor allem um diese Fragen: Welche Identität geben wir an die nächste Generation weiter? Kann etwas, das man nie selbst erlebt hat, extreme Macht über das eigene Leben, die eigene Kindheit haben?
Geboren im Konzentrationslager
Jede der drei Episoden stellt eine Person einer Generation in den Mittelpunkt. Los geht es mit Eva. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wird sie im Konzentrationslager Auschwitz geboren und wächst dort auf. Eine Episode weiter erleben wir Eva als Erwachsene. Ihre Tochter Léna kommt in Budapest vorbei, um sich Dokumente zu holen, die ihre jüdische Identität bestätigen. Doch das ist komplizierter als gedacht. Die schon leichte verwirrte Mutter weigert sich, sie herauszugeben. Wieder einmal entbrennt zwischen Mutter und Tochter ein heftiger Streit.
Turbulent geht es auch zwischen Léna und ihrem halbwüchsigen Sohn Jonas zu. An seiner Berliner Schule wird er als Jude gemobbt, doch die Schulleitung wiegelt ab. Jonas hat Mühe, in der Schulgemeinschaft seinen Platz zu finden und auch mit seiner Mutter gibt es reichlich Konfliktstoff. Eine unverhoffte Begegnung auf dem Schulweg macht ihm allerdings Hoffnung.
Drei sehr verschiedene Episoden
Die drei Episoden sind von einer völlig verschiedenen, aber stets packenden Bildsprache und Erzählweise geprägt. Am Anfang steht der Lagerhorror im Vordergrund, allerdings nicht aus der Perspektive der keinen Eva. Nach der Befreiung des Lagers reinigen ehemalige Insassen eine verlassene Gaskammer. Auf surreale Weise und in einer einzigen, quälend langen Einstellung zeigt der Film, wie die Männer beim Schrubben der Wände den Schrecken neu durchleben. Bis sie am Ende das Baby namens Eva entdecken, das die Todesfabrik überlebt hat.
Auch die Sequenz mit Léna und Eva besteht fast nur aus einem einzigen Longtake, bietet im Gegensatz zum Auftakt aber reichlich Dialog: Man erfährt einiges über Lénas Verletzungen durch eine emotional verkrüppelte Mutter. „Eine normale Kindheit? Ich weiß gar nicht, was das ist“, wirft Eva lakonisch in den Raum. Es ist ein intensiver Trip in die psychologischen Untiefen einer beschädigten Beziehung. Und damit auch großes und schonungsloses Schauspielerinnen-Kino. Ungarns Indiefilm-Ikone Lili Monori (Eva) und die Burgtheater-Mimin Annamária Lang (Léna) gehen bis zum Äußersten. Bis auch hier der Surrealismus einsetzt und für eine beklemmende Wendung sorgt.
Pfad vom Tod zum Leben
Fast schon episch fällt hingegen die längste Episode mit dem Fokus auf Jonas aus. Das Klaustrophobische und Kammerspielartige der beiden ersten Episoden weicht einer viel offeneren Erzählweise. Schon wegen der Vielzahl an Schauplätzen und der ständigen Bewegung trägt das Ganze Züge einer Reise.
Diese wird von der Hoffnung umweht, dass Jonas, anders als seine Mutter und Großmutter, für sich einen besseren Weg ins Leben findet. Als wäre er der erste, der den Pfad vom Tod zum Leben vollendet.
Offene Fragen
Wie bei diesem subjektiven Format zu erwarten war, liefert der Film keine endgültigen Fragen auf die eingangs erwähnten Fragen. Wohl aber wird anhand der Protagonist*innen deutlich, mit welcher komplizierten seelischen Gemengelage die Menschen aus von Traumata gezeichneten Familien zu kämpfen haben. Die drei Charaktere berühren uns durch ihre Individualität und verweisen zugleich auf größere Zusammenhänge in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Und damit auch auf die Frage, was die Gesellschaft in der Bundesrepublik oder anderswo tut oder tun sollte, damit diese Menschen Halt und Sicherheit finden. Beim Schreiben des Drehbuchs ließ Kata Wéber eigene Erfahrungen aus ihrer ungarisch-jüdischen Familie einfließen, nutzte aber auch viele weitere Quellen. Nicht nur wegen seiner radikalen Ansätze lässt einen dieser Film tief bewegt zurück. node:vw-infobox