Filmtipp „Erde“: Wie das große Graben den Planeten verwüstet
In Kalifornien können Ameisen Berge versetzen. Nun gut, es sind nicht wirklich Ameisen. Es ist nur so, dass die Menschen, die mit ihren Baggern und Planierfahrzeugen gemächlich, aber stetig dahinziehen, hoch oben vom Hubschrauber aus kaum zu erkennen sind. Dem Auge offenbart sich eine präzise Geometrie aus Furchen und Wegen, die sich über das mehrere tausend Hektar große Plateau ziehen. Wie auf einem Satellitenbild sind die Folgen dieser Wühlarbeit zu erkennen: kleiner Mensch, große Wirkung! Die Männer, die hier mit schwerem Gerät unterwegs sind, tragen die Berge ab, um Baugrund für eine neue Stadt zu schaffen.
Mondlandschaft in Kalifornien
Rund 216 Millionen Tonnen Erde und Mineralien werden weltweit täglich bewegt. 156 Millionen Tonnen davon entfallen auf die Wühlarbeit der Menschen, die nach Bodenschätzen suchen, Schneisen für Verkehrswege schlagen oder Bauland erschließen. In der vergleichsweise kurzen Zeit seiner Existenz hat der Homo sapiens das Gesicht der Erde stärker verändert als jede andere Spezies zuvor. Das lässt sich nicht nur in der besagten Mondlandschaft Kaliforniens besichtigen, die so gar nichts mit dem Sehnsuchts-Image des US-Bundesstaates gemein hat. Es ist einer von vielen Schauplätzen, die der österreichische Dokumentarfilmer Nikolaus Geyrhalter für seinen Film „Erde“ aufgesucht hat.
In mehreren Episoden zeigt er, mit welch immensem Aufwand die Menschen die Böden im Zeichen des Profits formen oder ausplündern. Es sind Schauplätze fundamentaler Veränderung, die meist in unwiederbringliche Vernichtung mündet. Auch, weil die Renaturierungsmaßnahmen vielerorts völlig unzureichend sind oder gar nicht erst umgesetzt wurden. Immer wieder wird aber auch deutlich, wie viel dieser Raubbau mit der Art und Weise, wie wir leben, zu tun hat. Das betont zum Beispiel eine Ingenieurin auf der Baustelle des Brenner-Basistunnels zwischen Italien und Österreich. Der Tunnel diene dazu, immer mehr Waren per Bahn zu transportieren, sagt sie. Für die längste unterirdische Eisenbahnverbindung der Welt werden gewaltige Gesteinsmassen bewegt.
Direkter Kontakt zur Erde
Auch diese Episode beginnt mit einem Standbild, das die Wühlarbeit außerhalb des Tunnels von weit oben einfängt. Und auch hier fördern die Interviews mit den Menschen vor Ort in klarer Rollenverteilung Aussagen zutage, die ihr Tun entweder kritisch hinterfragen oder mehr oder weniger als alternativlos darstellen. Letzteres mag man erwartet haben. Die kritische Selbstreflexion vor der Kamera überrascht hingegen immer wieder. „Da drinnen bohrt man direkt durch das Fleisch des Gebirges“, sagt ein Ingenieur am Brenner. „Das Besondere daran ist, dass man diesen direkten Kontakt zur Erde hat. Wo man sieht, wie sich die Erde in den Jahreszeiten entwickelt hat. Man fühlt sich ein bisschen wie ein Astronaut.“
Abgesehen von einer kurzen Einführung enthält sich Geyrhalter jeglichen Kommentars. Er verurteilt das Tun all der Baggerfahrer und Ingenieure nicht und setzt darauf, dass sich jeder aus dem Mix aus Demut und Überlegenheitsgefühl der Befragten ein eigenes Bild formt. Gleichwohl will der Regisseur und Kameramann erfahrbar machen, mit welchen Mitteln der Mensch seine Umgebung radikal verändert. Der bei der Berlinale ausgezeichnete Film nimmt sich viel Zeit, um zu zeigen, wie sich die von Menschenhand gesteuerten Maschinen unaufhaltsam durchs Erdreich arbeiten. Aus mehreren Perspektiven ist zu verfolgen, wie ein riesiger Schaufelradbagger nahe dem ungarischen Gyöngyös an der Kante des Braunkohletagebaus nagt.
Weltweiter Wettlauf nach Rohstoffen
Geyrhalters stets mit statischer Kamera eingefangenen, mitunter an Gemälde erinnernde Bilder bieten reichlich Weite und überwältigen gerade durch ihren präzisen Fokus. Mensch und Maschine verschmelzen nahezu miteinander, während sie im stoischen Rhythmus gemeinsam die Landschaft umpflügen. Das hat schon fast etwas Meditatives. Zugleich ist der Kraftaufwand und die schiere Gewalt zu spüren, die es braucht, um Böden und Bergen Schätze zu entreißen. Nicht nur, aber gerade in einem Marmor-Steinbruch bei Carrara (Italien). Manchmal muss es allerdings Dynamit sein. Wie etwa im Fall einer spanischen Kupfermine. Gerade dieser Schauplatz spricht Bände über den weltweiten Wettlauf nach Rohstoffen. Umso eindringlicher sind die Warnungen des Archäologen vor einem „Weiter so“.
Zerstörung und Mahnung bilden in der kanadischen Provinz Alberta ein besonders eindringliches Nebeneinander. Dort lässt der Ölsandabbau eine Kraterlandschaft bis ins Unermessliche wachsen und vergiftet Flüsse und Seen. Mit dem Mut der Verzweiflung stemmt sich eine Öko-Aktivistin dagegen und offenbart die Bedeutung der Natur für ihre indigene Kultur. Die Bilder aus dem Atommüllager Asse in Niedersachsen wiederum werfen ein Licht darauf, was passiert, wenn ein Plan, sich die Erde untertan zu machen, nicht aufgeht.
Info: „Erde“ (Österreich 2019), Regie und Kamera: Nikolaus Geyrhalter, 115 Minuten.
Kinostart: 4. Juli