Kultur

Filmtipp „Elfriede Jelinek“: Vielschichtiges Porträt einer Unbequemen

Mit Provokationen und Haltung gegen Konventionen: Der Dokumentarfilm „Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ bringt uns die Literaturnobelpreisträgerin als Künstlerin und Mensch näher.
von ohne Autor · 11. November 2022
Elfriede Jelinek: Die österreichische Literaturnobelpreisträgerin daheim in ihrem Lieblingssessel.
Elfriede Jelinek: Die österreichische Literaturnobelpreisträgerin daheim in ihrem Lieblingssessel.

Mitunter führt die Wahrnehmung eines künstlerischen Werkes oder auch der Blick auf dessen Rezeption dazu, dass sich ein verzerrtes Bild von dessen Schöpfer oder der Schöpferin bildet. Als wären Werk, Wirkung und Person eins.

Elfriede Jelinek kann davon ein Lied singen. Wer an Österreichs erste Literaturnobelpreisträgerin denkt, hat schnell die meist sehr schrillen, grellen und häufig von Skandalen begleiteten Inszenierungen ihrer Theaterstücke im Kopf.

Jelinek ist selbstironisch und zugewandt

Werk und Persönlichkeit sind gerade bei dieser Autorin eng miteinander verwoben. Und doch begegnet uns in dem Dokumentarfilm „Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ ein Mensch, der mit Selbstironie und Zugewandtheit überrascht. Und vor allem mit einer Gelassenheit, die wohl nur wenige mit der Erschafferin so vieler provokanter und sarkastischer Werke assoziieren dürfte, an denen man sich so wunderbar reiben kann.

„Feministin“, „Kommunistin“, „Sprachterroristin“ und nicht zuletzt „Nestbeschmutzerin“: Lang ist die Liste der überwiegend alles andere als schmeichelhaft intendierten Zuschreibungen für die 76-Jährige. Im Ausland hochverehrt, wird sie in ihrer Heimat Österreich von weiten Kreisen angefeindet. Weil sie angstfrei und rücksichtslos, aber stets sprachgewaltig dagegen anschreibt, was ihr zuwider ist.

Ihr Kampf gegen alte und neue Nazis

Zum Beispiel die von alten Nazis durchsetzte Gesellschaft im Nachkriegsösterreich, aber auch patriarchalische Verhältnisse und falsche Idyllen in globaler und zeitloser Perspektive. Ihr Theaterstück „Burgtheater“ über braune Kontinuitäten an der gemeinhin als nationales Heiligtum betrachteten Wiener Bühne machte sie in den 1980er-Jahren in der Alpenrepublik zur Hassfigur.

Claudia Müllers Dokumentarfilm zeigt uns, wie Elfriede Jelinek zu dem geworden ist, was sie ist. Sie bringt uns eine außergewöhnliche, weil vielfach begabte und auch gezeichnete Frau jenseits der öffentlichen Figur näher. Das war alles andere als selbstverständlich. Seit der Verleihung des Nobelpreises im Jahr 2004 hat sich die an einer Angststörung leidende Protagonistin aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und gibt keine Interviews mehr. Für Müller machte sie eine Ausnahme.

Gegen Konventionen anschreiben

Vor die Kamera war sie hingegen nur für einen sehr kurzen Moment zu bekommen. Müller musste auf Archivmaterial zurückgreifen, um Jelineks Biografie und den gesellschaftspolitischen Kontext zu skizzieren. Im Mittelpunkt steht, das ist wenig überraschend, ihr Weg hin zur und mit der Literatur. Wie sie eine von manchen als „vulgär“ oder „blasphemisch“ verurteilte experimentelle literarische Sprache entwickelte, um sich frei von allen Zwängen und Grenzen auszudrücken und mit den Konventionen einer in ihren Augen verkommenen Gesellschaft zu brechen.

Neben Wegbegleitern und Kritikern – darunter der frühere FPÖ-Chef Jörg Haider, dessen Partei einst auf Wahlplakaten Stimmung gegen Jelinek machte – kommt dabei vor allem die Künstlerin selbst zu Wort. In Interviewsequenzen, aber auch in Ausschnitten aus ihren Werken, die von Sophie Rois, Stefanie Reinsperger und weiteren Schauspieler*innen wiedergegeben werden. Mit Kamerafrau Christine A. Maier besuchte Müller die Schauplätze jener Texte. Dabei entstanden lange Einstellungen, die den aus dem Off klingenden Worten reichlich Raum zum Atmen geben.

Katholische Mutter und jüdischer Vater

In dem meist sehr ruhigen Strom aus Bildern und Worten, der sich einer Chronologie verweigert, wird ein Lebensweg greifbar, der von Anbeginn von viel Druck und Widerstand von außen, aber auch von einem klaren inneren Kompass bestimmt war.

Geboren 1946 in der Steiermark als Kind einer katholischen Mutter und eines jüdischen Vaters, war für Jelinek eine Laufbahn als musikalisches Wunderkind vorgesehen. Sie erkämpfte sich einen anderen Weg, dabei immer auch von dem Drang getrieben, die Verbrechen der Nazis und braune Umtriebe nach 1945 anzuprangern, gerade auch im Namen der ermordeten Verwandten.

Soziale Klischees enthüllen

In diesem Spannungsverhältnis entstand ein „musikalischer Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen“, wie es seinerzeit in der Begründung für den Nobelpreis hieß.

Claudia Müllers Film gibt uns eine Ahnung davon, wie dieser „Fluss“ ins Fließen kam und noch immer fließt. Komplexe psychologische und ästhetische Prozesse werden in schlüssigen Episoden veranschaulicht, ohne den Anspruch einer überzogenen Eindeutigkeit zu erheben. All das ist eine Einladung, sich weit über eine Filmlänge hinaus mit dem Leben und dem Werk dieser besonderen und mitunter auch sonderbaren Dichterin, politischen Aktivistin und sozial engagierten Bürgerin zu beschäftigen.

Info: Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen (Deutschland 2021), ein Film von Claudia Müller, mit den Stimmen von Ilse Ritter, Sandra Hüller, Stefanie Reinsperger, Sophie Rois, Maren Kroymann und Martin Wuttke, 96 Minuten.
http://www.farbfilm-verleih.de/filme/elfriede-jelinek-die-sprache-von-der-leine-lassen/
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