Filmtipp „Ein Sack voll Murmeln“: Zwei Brüder tricksen die Nazis aus
Thibault Grabherr - Quad
Der Kanadier Christian Duguay hat aus dem Roman „Ein Sack voll Murmeln“ eine ebenso bildgewaltige und emotionale wie präzise Adaption geformt. Es ist zugleich eine der wenigen Filme, die den Holocaust aus der Sicht von Kindern erzählt.
Verfolgt: von einem Tag auf den anderen
Plötzlich müssen sie einen gelben Stern tragen: Für die Pariser Brüder Joseph und Maurice ändert sich im Kriegsjahr 1941 von einem auf den anderen Tag alles. Ihre Mitschüler bespucken sie und der Alltag wird immer bedrohlicher. Die Eltern beschließen, mit ihren Kindern in den unbesetzten Teil des Landes zu gehen, allerdings getrennt.
Der zehnjährige Joseph und der wenige Jahre ältere Maurice, die jüngsten der vier Söhne, verlassen den gutbürgerlichen Haushalt mit Friseursalon und machen sich auf gen Süden zum vereinbarten Treffpunkt. Der Grund ihrer übereilten Abreise ist ihnen schmerzlich bewusst, wenn zunächst auch nicht bis zur letzten Konsequenz. Wer, zumal welches Kind, hätte sich zu dem Zeitpunkt schon vorstellen können, dass wenig später Züge in die Vernichtungslager rollen würden?
Der starke Wille zu überleben
Unterwegs nach Nizza werden die beiden mit den Gräuel der deutschen Besatzer konfrontiert. Doch vor allem ist es für sie ein großes Abenteuer, erstmals ohne Eltern unterwegs zu sein und über sich selbst hinauszuwachsen. Bis zum Wiedersehen mit der Familie müssen sie einige brenzlige Situationen überstehen. Doch die gemeinsame Zeit wird nur von kurzer Dauer sein. Nach dem Sturz Mussolinis ziehen die Italiener ab und die Deutschen übernehmen das Kommando. Prompt sind die Joffos schon wieder auf der Flucht.
Das Berührende an diesem Film ist, dass er, ebenso wie die Romanvorlage, vor allem an den Willen zu überleben appelliert. Das verleiht ihm eine besondere Kraft, macht ihn aber auch zeitlos, denkt man allein an die unzähligen Kinder, die seit einigen Jahren mit den Flüchtlingsströmen nach Europa gekommen sind. Vater Roman trichtert seinen Kindern immer wieder ein, was es heißt, alles zu tun, um sich nicht von den Häschern der SS erwischen zu lassen. Dazu zählt nicht zuletzt, ihre jüdische Identität zu verleugnen. Lieber eine Ohrfeige ertragen als verhaftet werden. Auf martialische Weise stellt er die Jungen auf die Probe.
Der Vater will seine Kinder schützen
Roman hat sehr präzise Vorstellungen davon, was auf Frankreichs Juden zukommt. Als Kind floh er mit seinem Vater vor den Pogromen in Russland. Die Gaskammern dürften auch seine Vorstellungskraft sprengen. Wohl aber ist er mit ebenso strenger wie liebevoller Fürsorge darauf bedacht, seine Kinder auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Rasch zeigt sich wie richtig er mit seinem Misstrauen und der Vorsicht liegt. Doch auch Roman ist nicht immer Herr der Dinge.
„Ein Sack voll Murmeln“ erzählt aber nicht nur die Geschichte einer Familie. Wenn auch der Kontext oftmals nur grob skizziert wird, blickt der Film immer wieder auch auf den Zustand der französischen Gesellschaft unterm Hakenkreuz, hin und her gerissen zwischen Résistance und Kollaboration. Wie stand es damals um die revolutionären Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit? Tugenden mithin, die für den Bestand der Familie Joffo von entscheidender Bedeutung sind.
Zwischen Emotionalität und präziser Beobachtung
Mögen die Szenen, wenn Maurice und Joseph die Natur bestaunen oder sich die Familie am Strand in den Armen liegt, nah am Kitsch liegen: Duguays hervorragend besetzte Erzählung gelingt der Spagat zwischen Emotionalität und präziser Beobachtung, was etwa das historische Setting betrifft. Die Momente, in denen Maurice und Joseph unter sich sind, zählen zu den stärksten. Auch, weil die Brüder immer wieder ironisch auf sich und das, was ihnen widerfährt, zu blicken imstande sind.
So werden zudem Klischees, auch über kindlichen Durchhaltewillen, gebrochen. Die beiden Jungschauspieler Dorian Le Clech und Batyste Fleurial verleihen ihren Figuren, die im Laufe der Handlung deutlich reifen, eine beeindruckende Tiefe. Aber auch Patrick Bruel als ebenso von den Zeitläuften wie von der Liebe zu seiner Familie getriebener Vater – letztendlich eine tragische Figur – berührt zutiefst.
Info: „Ein Sack voll Murmeln“ (Frankreich, Kanada, Tschechien 2017), ein Film von Christian Duguay, mit Dorian Le Clech, Batyste Fleurial, Patrick Bruel, Elsa Zylberstein, Christian Clavier u.a.