Filmtipp „Ein großes Versprechen“: Multiple Sklerose als großes Kino
Auf diesen Satz hat man förmlich gewartet. „Nichts ist mehr wie früher“, sagt Erik Bergström, als er seiner Tochter erklärt, wie das neue Leben ihrer Eltern aussieht. Eigentlich wollten Erik und seine Frau Juditha jetzt im Glück schwelgen, endlich Zeit füreinander haben. Gerade hat der engagierte Universitätsprofessor seinen Ruhestand angetreten.
Die Devise „Das kann ich allein“
Doch es kommt anders. Seit Jahren leidet Juditha an Multipler Sklerose (MS). Jetzt hat sich die Krankheit rapide verschlechtert. Diese Wahrheit stellt die Erwartungen an das gemeinsame Leben im Alter auf den Kopf und die Eheleute vor ungeahnte Herausforderungen. Erik versucht, Juditha mit praktischer Hilfe zur Seite zu stehen und geht zur Selbsthilfegruppe. Juditha wiederum igelt sich immer mehr zu Hause ein und folgt zunehmend aggressiv der Devise „Das kann ich allein“.
Nichts ist mehr wie früher: Bis zu dieser Erkenntnis ist es für beide ein langer und schmerzvoller Weg. Im Abwärtsstrudel der gemeinsamen Wünsche und Sehnsüchte entsteht zwischen Erik und Juditha eine zerstörerische Dynamik, die sie an ihre seelischen und körperlichen Grenzen führt. Diese Geschichte zeigt aber auch: Wer sich eingesteht, was er oder sie wirklich braucht, besitzt zwar keine Garantie für ein Happy End, kann aber zumindest darauf hoffen.
Tückische und unheilbare Krankheit
„Ein großes Versprechen“ kommt anlässlich des Welt-MS-Tages am 30. Mai in die Kinos. Das Spielfilmdebüt der Regisseurin Wendla Nölle erzählt aber nicht nur von einer tückischen und unheilbaren Krankheit. In erster Linie geht es um eine große Liebe, die sich unter extremen Bedingungen neu beweisen muss.
Wie groß diese Liebe ist, wird in feinen Nuancen skizziert. Jede Umarmung, jeder Blick und jede Geste zeugt von der tiefen Innigkeit zwischen Erik und Juditha. Die Kamera kommt den beiden so nah, dass sich Zuschauende fast schon dafür schämen, an diesem intimen Miteinander teilzuhaben.
Alles steht auf der Kippe
Genauso intensiv wird eingefangen, wie all das zunehmend auf der Kippe steht. Ob Judithas zunehmende Gebrechlichkeit oder Erik, der an der Pflege seiner Frau und der häuslichen Enge kaputt zu gehen droht: Auch hier kennt die Bildsprache keine Gnade.
Diese dokumentarische Grundhaltung, die auch die komplizierte emotionale Gemengelage abzubilden vermag, zeugt davon, dass Nölle eigentlich vom Dokumentarfilm kommt. Die Regisseurin verbindet mit dem Film zudem ein persönliches Anliegen, denn ihre Mutter leidet ebenfalls an MS. „Ein großes Versprechen“ ist also auch ein Stück weit Bewältigungsarbeit.
Großartiges Schauspieler*innen-Kino
Vor allem aber bietet dieses Drama, das in die Vorauswahl des Deutschen Filmpreises aufgenommen wurde, großartiges, wenn nicht gar preiswürdiges Schauspieler*innen-Kino mit einem überschaubaren Ensemble und innerhalb eines kammerspielartigen Rahmens. Das gilt vor allem für „Tatort“-Kommissarin Dagmar Manzel. Ihre Weise, eine Frau zu verkörpern, die sich mit aller Kraft gegen ihren körperlichen Niedergang stemmt und dabei nicht nur grausam gegenüber sich selbst agiert, ist bedrückend und faszinierend zugleich. So eine schauspielerische Tour de Force ist im deutschen Kino selten.
Aber auch Rolf Lassgård, bekannt als „Kommissar Wallander“ und ebenfalls eine gefeierte Bühnengröße, beeindruckt. Dieser nur scheinbar stoische Bär von einem Mann lässt oftmals nur erahnen, was in ihm vorgeht. Umso berührender sind die Momente, wenn sich sein Inneres, darunter auch Zartheit und Schwäche, Bahn bricht.
Rätselhaft und nicht rational
Nicht immer ist die Handlung logisch oder nachvollziehbar. Manch eine Aktion oder Reaktion der beiden Protagonist*nnen bleibt rätselhaft. Es wäre wohl hilfreich gewesen, mehr über das frühere Leben von Juditha und Erik zu erfahren. Andererseits könnte man auch darin einen um äußersten Realismus bemühten Ansatz sehen. Wer handelt im Angesicht einer schweren Erkrankung schon stets rational?
Allerdings ist die Paarkonstellation, um die es hier geht, nicht frei von Klischees. Der Mann, der voller Pläne steckte und dem nun alles zu eng wird: Das ist ein altbekanntes Bild, das hier immerhin in vielschichtiger Weise neu entworfen wurde. Ebenso ist es mit der Frau, die sich Geborgenheit wünscht und verletzt ist, wenn der Partner seiner Wege geht.
Dass uns „Ein großes Versprechen“ eine universale Geschichte innerhalb eines sehr reduzierten, aber subtil ausgeleuchteten Kontextes nahebringt, ist davon allerdings unbenommen.
Info: „Ein großes Versprechen“ (Deutschland 2021), Regie: Wendla Nölle, Buch: Greta Lorez, mit Dagmar Manzel, Rolf Lassgård, Wolfram Koch u.a., 90 Minuten
https://filmperlen.com/filme/ein-grosses-versprechen/
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