Filmtipp „Doch das Böse gibt es nicht“: über die Todesstrafe im Iran
Was wäre die Unterdrückungsmaschinerie des Iran ohne die Todesstrafe? 246-mal wurde sie laut Amnesty International im vergangenen Jahr in der Islamischen Republik vollstreckt. Auf der Rangliste der Länder, die die Zahl der Hinrichtungen melden – der mutmaßliche „Primus“ China beispielsweise tut dies nicht – lag das Mullah-Regime ganz vorne.
In „Doch das Böse gibt es nicht“ nimmt sich der iranische Filmemacher Mohammad Rasoulof dieses für Irans Gesellschaft existenziellen und traumatisierenden Themas an. In vier Episoden begegnen wir Menschen, die auf verschiedene Weise mit dem System Todesstrafe verstrickt sind oder waren. Mitunter kommt einem dabei Hannah Arendts Begriff von der „Banalität des Bösen“ in den Sinn. Auch anderweitig wird die Kategorie des „Bösen“ relativiert oder kontextualisiert. Vor allem, weil die „Rädchen im System“ moralische und psychischen Grenzerfahrungen durchmachen und uns dabei sehr nahekommen. Immer wieder fragen wir uns: Wie würden wir uns verhalten?
Ein vorbildlicher Ehemann
„Was sind das nur für Kreaturen, die Menschen hinrichten können?“, fragt Baram am Ende der vierten Episode. Im Grunde steht dieser Gedanke über dem ganzen Film. Baram zitiert mit dieser Frage eine Verstorbene. Das Drama des Außenseiters, der mit seiner Frau zurückgezogen im Hochland lebt, begann vor vielen Jahren und schien fast vergessen. Als ihn eine aus Deutschland angereiste Verwandte besucht, muss sich der Arzt, der nicht praktizieren darf, seiner Vergangenheit stellen.
Zwei Episoden sind in der unmittelbaren Gegenwart verhaftet. Zum Auftakt begleiten wir Heshmat durch den Tag. Ob Großeinkauf, Wohnungsputz oder ein Abend mit Frau und Tochter in der Pizzeria: Der vorbildliche Ehemann und Vater erledigt alles mit unbewegter Miene. Die Inkarnation eines Routiniers? Dass an Heshmat etwas nagt, wird spätestens dann klar, als er wieder mal zur Nachtschicht aufbricht. Mit einem brutalstmöglichen Schnitt setzt Rasoulof dem Realismus, der eine lakonische Anklage beinhaltet, die Krone auf.
Irans dunkle Seiten
Eine Hinrichtung als Bürde mit drastischen Konsequenzen: Darum geht es in zwei anderen Episoden. Pouya verbringt eine schlaflose Nacht. In wenigen Augenblicken muss er einen Delinquenten auf seinem letzten Weg begleiten. Gibt es für den Wehrdienstleistenden einen Ausweg? Aus dem Konflikt des jungen Mannes spinnt Rasoulof einen Plot mit atemloser Spannung, der mit Realismus allerdings wenig zu tun hat. Ähnlich wie die vierte speist sich auch die dritte Episode aus einer Vorgeschichte. Eigentlich war Javad in die idyllische Gegend am Kaspischen Meer aufgebrochen, um seiner Freundin Nana einen Heiratsantrag zu machen. Doch der Soldat muss einige Überraschungen verkraften. Das hat auch mit dem Grund für seinen Sonderurlaub zu tun.
Die vier Geschichten verbindet eine eher lose inhaltliche Klammer. In Sachen Bildsprache und Erzählweise sind sie zu gegensätzlich angelegt, um miteinander zu korrespondieren oder ein Ganzes zu ergeben. Das ist aber auch gar nicht nötig. Jede Episode legt verstörende Seiten der iranischen Gesellschaft offen, vermeidet allerdings eindeutige moralische Urteile. Dennoch dürften Teherans Kulturwächtern diese Einblicke wenig schmecken.
Repressives System vorgeführt
Apropos Zensur: Der bei der Berlinale 2020 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnete Film entstand unter konspirativen Bedingungen. Rasoulof wurde vor Jahren mit einem Drehverbot belegt und darf Iran nicht verlassen. Die Koproduzenten besorgten Drehgenehmigungen für einen Kurzfilm, und zwar in vier Städten. Ironie des Schicksals: Der damit verbundene Wechsel der Schauplätze tut der erzählerischen und atmosphärischen Tiefe dieses als „Stückwerk“ gestarteten Endproduktes gut.
Die iranische Justiz hat den 1972 geborenen Regisseur und Drehbuchautor, der 2017 in Cannes für „A Man Of Integrity“ ausgezeichnet wurde, wegen der Verbreitung von „landesfeindlicher Propaganda“ angeklagt. Zuletzt musste er täglich damit rechnen, im Gefängnis zu landen. Vor diesem Hintergrund kann es nicht genug betont werden: „Doch das Böse gibt es nicht“ ist ein in sich nicht allzu stimmiges, aber durchaus berührendes Werk über Irans dunkle Seiten. Und es zeigt, wie sich ein repressives System mit den Mitteln der Kunst im besten Sinne vorführen lässt.
Info: „Doch das Böse gibt es nicht“ (Deutschland/Tschechische Republik/Iran 2020), ein Film von Mohammad Rasoulof, Kamera: Ashkan Ashkani, mit Ehsan Mirhosseini, Shaghayegh Shourian, Kaveh Ahangar u.a., 150 Minuten, FSK: keine Angabe
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