Filmtipp „Die Super-8-Jahre“: Vom langen Aufbruch der Annie Ernaux
Man kennt diesen Effekt, wenn man in alten Familienfotos wühlt. Ein Foto ist zunächst nur ein Foto. Eine Momentaufnahme. Betrachten wir mehrere Bilder nacheinander, formt sich daraus womöglich eine Geschichte mit einer inneren Logik. Annie Ernaux verfügt über einen ganz besonderen Schatz an Familienbildern. Für ihr Debüt als Filmemacherin hat sie ihn gehoben.
Bewegte Jahre
Zahllose Super-8-Filmrollen dokumentieren das Leben von Frankreichs Literaturikone und ihrer Familie zwischen den Jahren 1972 und 1981. Es waren sehr bewegte Jahre, familiär wie gesellschaftlich und politisch. Vor allem aber für die 82-Jährige höchstpersönlich: Damals wurde aus der Lehrerin und Mutter, die heimlich zu Hause an ihrem Romandebüt schrieb, eine erfolgreiche Schriftstellerin.
Mit ihren soziologischen Analysen der französischen Klassengesellschaft avancierte Ernaux in den 80er-Jahren zu einer der einflussreichsten Intellektuellen ihres Landes. In den auf Zelluloid dokumentierten Jahren zerbrachen aber auch ihre Familie und ein Lebensentwurf. Mit Davd Ernaux-Briot, einem ihrer beiden Söhne, wertete Annie Ernaux die Filmrollen aus.
Ideale und Konsum
Hinterlassen hat sie ihr vormaliger Ehemann Philippe Ernaux, von dem sie seit den frühen 80er-Jahren getrennt lebte. Ob eine weihnachtliche Bescherung, die ersten Ski-Versuche der Söhne, verschiedene Wohnungseinrichtungen oder Reisen in die Sowjetunion und ins sozialistische Chile: Die chronologisch montierten Aufnahmen geben Einblicke in das Leben einer jungen Familie, die linke politische Ideale elegant mit den Konsumbedürfnissen der aufstrebenden Mittelschicht verbindet. Die 68er sind angekommen.
Ausdruck dieser neuen Möglichkeiten und „Must-haves“ ist auch die Super-8-Kamera, die Philippe Ernaux 1972 angeschafft hat. Im allerersten Moment agiert seine Frau noch schüchtern, sobald sie im Fokus ist. Das wird sich im Laufe der Zeit ändern. 95 Prozent Bilder hat Monsieur Ernaux gedreht. Beständig folgen wir seinem überraschend versierten Blick auf Menschen, Häuser und Landschaften.
Der Film geht allerdings weit über diese reine Bildebene hinaus. Für den Gesamtrahmen der Erzählung ist entscheidend, was die Kamera nicht zeigt. Es sind die unsichtbaren Fäden jenseits des Sichtbaren. Diese Bereiche erkundet Annie Ernaux in ihrem Off-Text als Erzählerin.
Wahrheit hinter den Bildern
Sie belässt es nicht bei der Beschreibung von Situationen, sondern sucht nach der Wahrheit hinter den Bildern. Was sollten sie zum Ausdruck bringen? Was empfanden die Menschen vor und hinter der Kamera, als sie entstanden? Was lässt sich aus den Aufnahmen über die damalige Situation innerhalb der Familie und der Gesellschaft herauslesen?
Annie Ernauxs Text ist ein stetiger Kontrapunkt zur Perspektive des filmenden Philippe Ernaux. In ihrer soziologischen Spurensuche nimmt sie immer wieder sich selbst in den Blick. Wo war damals ihr Platz im Leben? Wo zeichnen sich spätere Weichenstellungen ab? Ist die Tatsache, dass sie dem Skivergnügen ihrer Familie fernbleibt und lieber in der Ferienwohnung an ihrem Manuskript arbeitet, tatsächlich ein Menetekel für das spätere Auseinanderbrechen des gewohnten Gefüges?
Ob der Aufstieg aus einfachsten Verhältnissen in die Bildungselite und das Gefühl, das Milieu ihrer Eltern und Großeltern fortwährend zu verraten. Oder der Weg heraus aus dem Schatten des Ehemannes hin zu einer selbstbewussten Künstlerin: Viele dieser Themen hat Annie Ernaux auch in ihren stark autobiografischen Büchern behandelt, etwa in dem Bestseller „Die Jahre“. 2017 erschien das Buch in deutscher Übersetzung und machte seine Schöpferin nun auch in Deutschland bekannt.
Eine Familienfiktion
„Wir wollten den Momenten eine Zukunft geben“, kommentiert Annie Ernaux eine Szene aus den späten Siebzigern. Es sei wohl darum gegangen, eine „Familienfiktion“ zu entwerfen. Mutter und Sohn haben sich Pappkronen aufgesetzt. Alle am Tisch wirken fröhlich. Und doch: Durch die Worte der Erzählerin schmecken sie nach Verlust.
„Die Super-8-Jahre“ lebt von dem Reiz, aber auch von der Gefahr, aus überwiegend unbekümmert anmutenden Filmchen eine sich selbst erfüllende Entwicklung abzulesen. In Kombination mit der Erzählung aus dem Off lässt sich in ihnen aber dennoch eine tiefere Wahrheit erkennen. Was auch daran liegt, dass Annie Ernauxs ebenso anschauliche wie kritische und distanzierte Rückschau gedanklich sehr beweglich ist.
Durch die Beleuchtung jener prägenden privaten Lebensjahre bringt uns der in diesem Jahr in Cannes gezeigte Film eine gefeierte, aber auch polarisierende öffentliche Figur sehr nahe. Und zwar aus dem Blickwinkel ihrer, wie diese Arbeit vermuten lässt, schärfsten Kritikerin.
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