Kultur

Filmtipp „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“: Ein wildes Fest der Fantasie

Durchgeknallt und dennoch tiefgründig: Der Film „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ feiert die Fiktion und verlacht jeglichen Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Jetzt ist der farbenfrohe Streifen fürs Heimkino zu haben.
von ohne Autor · 15. Januar 2021
Unheimlich: Dieser Psychiater (Ernesto Alterio) steckt voller Geschichten und Geheimnisse.
Unheimlich: Dieser Psychiater (Ernesto Alterio) steckt voller Geschichten und Geheimnisse.

Züge und psychiatrische Anstalten zählen zu den cineastischen Schauplätzen, die die Einbildungskraft des Publikums schon immer besonders befeuert haben. Man denke nur an „Der Fremde im Zug“ von Alfred Hitchcock, beziehungsweise „Einer flog übers Kuckucksnest“ von Miloš Forman. So gesehen dürften viele, die sich auf das Spielfilmdebüt des spanischen Regisseurs Aritz Moreno einlassen, nicht ganz unvorbelastet in einen irren Strudel von ineinander verschachtelten Geschichten eintauchen.

Bevor dieser Strudel Fahrt aufnimmt, mutet die im Großraumabteil eines Schnellzuges nach Madrid einsetzende Handlung ganz klassisch an. „Darf ich Ihnen meine Lebensgeschichte erzählen?“ Mit diesen Worten setzt sich Ángel, der sich als Psychiater vorstellt, zu Helga an den Tisch. Bei sich trägt er eine Mappe mit Berichten, die die Patienten seiner Klinik über ihr Leben verfasst haben. Diese Berichte bestimmen die Struktur des in mehreren Kapiteln angelegten Films.

Die Grenzen zwischen Realität und Wahn verschwimmen

Diese Struktur ist alles andere als vorhersehbar. Die Erzählungen, die Ángel vor der erstaunten Helga ausbreitet, strotzen vor finsteren Abgründen, grotesken Situationen und überraschenden Wendungen. Schicht um Schicht nähert man sich dem Kern des Ganzen. Die Grenzen zwischen Realität und Wahn verschwimmen.

Da wäre zum Beispiel der Bericht des ehemaligen Soldaten Martin. Nachdem er auf dem Balkan mit übelster Gewalt an Kindern konfrontiert wurde, kehrt er traumatisiert zum autoritären Vater nach Spanien zurück. Oder war alles ganz anders? Ist Martin doch nur ein paranoider Müllmann? Dass Ángel selbst zum Akteur seiner Erzählungen wird, trägt ein Übriges zur Verwirrung bei. Schlussendlich ist Ángel – wer hätte es gedacht! – Teil einer noch ganz anderen Geschichte.

Surrealistische Tradition des spanischen Kinos

Trotz des zunächst vertraut wirkenden Settings orientiert sich dieser Film weniger an etwaigen Mainstream-Vorbildern, sondern vor allem an den surrealistischen Traditionen des zeitgenössischen Kinos, nicht nur, aber gerade spanischer Provenienz. Die literarische Vorlage dafür lieferte Antonio Orejudo mit seinem im Jahr 2000 erschienen Roman „Ventajas de viajar en tren“. Zug und Psychiatrie sind allenfalls Wegmarken auf einer Reise in menschliche Untiefen und weniger Orte, die uns durch die Geschichten in den Geschichten tragen.

Auch Helga hat einiges zu bieten. Warum sitzt sie im Zug? Ihre Erzählungen liefern die Vorgeschichte. Die so beherrscht wirkende Verlegerin breitet schonungslos ein Leben voller unerfüllter Sehnsüchte und Erniedrigungen aus. Hat ihr in Hunde vernarrter Partner, den sie soeben geistig umnachtet in psychiatrische Behandlung gegeben hat, ihr wirklich so krass mitgespielt, wie sie es beschreibt? Auch hier bleibt vieles offen, offenbaren sich überraschende Verbindungen. Wie wird Helgas und Ángels Reise weitergehen?

Komödie und Horrorthriller zugleich

Schwarze Komödie, Groteske, Horror, Mystery und Thriller: So unerwartet wie manch ein Schlenker in dem Handlungswust ist auch der Wechsel der Tonalitäten. Jede Einzelne davon kostet Moreno genüsslich aus und treibt sie bis zum Äußersten. Die meist kräftigen Farben, das Licht und das Setting geben das jeweilige Genre stimmig wieder. Aber auch insgesamt ist der ästhetische Eindruck runder, als der inhaltliche und konzeptionelle Ansatz vermuten lässt.

Dazu tragen auch die äußerst facettenreich agierenden Darsteller*innen mit ausgeprägtem körperlichem Spiel bei. Das lässt sich nicht zuletzt von Ernesto Alterio als Psychiater Ángel sagen, dem man von Anbeginn nicht recht traut und der mit Aussagen wie „Wir lernen keine Personen kennen, sondern Geschichten“ das zentrale Anliegen dieses Bilderrauschs in philosophische Bemerkungen kleidet. Oder, um es mit den Worten des Regisseurs zu sagen: „Alles ist Fiktion, wir sind selbst Fiktion. Wir sind das, was wir anderen sagen, was wir sind.“

Nichts weniger als das will Morenos mitunter tiefgründiger, aber stets spannender und unterhaltsamer Film, der 2020 in den Kinos lief und für den Europäischen Filmpreis nominiert war, untermauern. Dass er dabei mitunter zum Vorschlaghammer greift, locker mit Ekelgrenzen umgeht und uns auch sonst viel zumutet, ist zu verschmerzen.

Info: „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ (Spanien/Frankreich 2019), nach dem Roman von Antonio Orejudo, Regie: Aritz Moreno, Drehbuch: Javier Gullón, Kamera: Javi Agirre Erauso, mit Luis Tosar, Pilar Castro, Ernesto Alterio, Quim Gutiérrez u.a., 103 Minuten, OmU, FSK ab 18 Jahre

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