Kultur

Filmtipp „Der Prozess:“ SS-Verbrecher im Dialog mit KZ-Überlebenden

Der Düsseldorfer Majdanek-Prozess war die längste Gerichtsverhandlung der Bundesrepublik. Auf den Aussagen von Angeklagten und Zeugen beruht der Dokumentarfilm „Der Prozess“. Jetzt ist das Mammutwerk als DVD-Sonderausgabe erhältlich.
von ohne Autor · 7. Mai 2020
Die Angeklagte Hildegard Lächert war wegen ihrer Brutalität gefürchtet.
Die Angeklagte Hildegard Lächert war wegen ihrer Brutalität gefürchtet.

Selbstgehäkelte Deckchen und Nippesfiguren schmücken die Gefängniszelle. Dazwischen sitzt eine ältere Dame mit sorgsam hochgesteckten Haaren und lobt die gute Behandlung, die ihr hier widerfährt. Mehr als drei Jahrzehnte zuvor war sie es, die andere Menschen bewachte, auch wenn diese in ihren Augen keine Menschen waren. Die Rede ist von Hildegard Lächert. Als eine von 17 Beschuldigten saß sie ab November 1975 beim dritten Majdanek-Prozess in Düsseldorf auf der Anklagebank. Der früheren SS-Aufseherin im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek wurde gemeinschaftliche Beihilfe zum Mord in zwei Fällen an mindestens 100 Menschen vorgeworfen.

1981 werden milde Urteile gesprochen

Rund eine Viertelmillion Menschen, vor allem Juden, starben in dem in Polen gelegenen Lager in der Gaskammer, bei Erschießungen, an Misshandlungen, Hunger und Krankheiten. 1944 wurde es als erstes der großen Todeslager von sowjetischen Truppen befreit. Gut 30 Jahre später, nach zwei Verhandlungen in Lublin, begann in Westdeutschland die juristische Aufarbeitung der Verbrechen von Majdanek. Im Juni 1981 wurden die – in den Augen von Beobachtern viel zu milden – Urteile gesprochen. Es war der längste und teuerste Prozess der Bundesrepublik

Von Anbeginn verfolgte der Filmemacher Eberhard Fechner das Geschehen. In den 70er-Jahren war er durch den TV-Zweiteiler „Tadellöser & Wolff“ bekannt geworden. Nicht nur das Ausmaß des Elends und der Unmenschlichkeit in dem berüchtigten Lager, sondern auch das Material, das Fechner in achtjähriger Arbeit zu einer Dokumentation verdichtete, ist monströs. Für „Der Prozess“ sprach der 1992 verstorbene Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler mit Angeklagten Zeugen, Staatsanwälten und weiteren Prozessbeteiligten. Aus 70 Interviews sowie Dokumentarfilmen, Fotos, „Tagesschau“-Berichten und Akten rekonstruierte er Geschehnisse in Majdanek und den Prozessverlauf. An 105 Drehtagen war er für Interviews mit seinem Team in Düsseldorf und in Polen, Israel und Österreich zugegen. Erst 1984, als die Urteile rechtskräftig waren, konnte der Film öffentlich gezeigt werden.

Deshalb wäre der 8. Mai ein guter Feiertag

Nicht nur der Majdanek-Prozess, sondern auch Fechners dokumentarische Aufarbeitung sind heute weithin vergessen. Aus mehreren Gründen lohnt es sich allerdings, sich auf das viereinhalbstündige Werk einzulassen. Zum Beispiel, um sich 75 Jahre nach Kriegsende die Schrecken des NS-Staates zu vergegenwärtigen. Politiker*innen, die öffentlich behaupten, ein gesetzlicher Feiertag am 8. Mai habe keinen Sinn, könnten einiges lernen.

Unabhängig von dieser moralischen Implikation, die in dieser sehr nüchtern gehaltenen Produktion allenfalls im Hintergrund mitschwingt, besticht „Der Prozess“ vor allem durch die Komposition der Erinnerungsberichte. Die Beweisführung vor Gericht stützte sich vor allem auf Zeugenaussagen. Also auf Aussagen von Menschen, die in Majdanek nur knapp dem Tod entkommen waren und die anderen dabei zugesehen hatten, wie sie in den Tod gingen.

Erinnerungen, die erstmals zur Sprache kommen

Jedes dieser Selbstzeugnisse war von dem Leben nach und mit den Ereignissen geprägt. Von den Angeklagten kamen in der Verhandlung wie vor der Kamera vor allem Unschuldsbekundungen, etwa in Bezug auf die „Aktion Erntefest“, bei der 1943 an einem Tag rund 17.000 Juden aus der Umgebung im Lager erschossen wurden.

Fechner bringt die Erinnerungen der Befragten auf besondere Weise „zum Sprechen“. Vielen von ihnen, auch den Angeklagten, entlockte er Dinge, die sich tief im Bewusstsein eingegraben hatten und offenbar erst jetzt zur Sprache kamen. So bringt etwa Hildegard Lächert Eindrücke vom KZ-Alltag ans Tageslicht, die ihre Selbststilisierung zum Unschuldslamm als Farce entlarven.

Geschickte Fragen, mutige Schnitte

Im Zusammenspiel mit den Berichten der Überlebenden formt sich ein Bild und es wird klar, warum die Aufseherin in Majdanek als „blutige Brigitte“ gefürchtet war. Mal wurden die Gesprächsausschnitte so montiert, dass die Aussagen der Befragten einander widersprechen. In einem anderen Moment scheinen sie einander zu ergänzen. Das führt so weit, dass man den Eindruck hat, eine frühere Aufseherin würde den Satz einer Ex-Insassin vollenden. Durch geschicktes Fragen und einen mutigen Schnitt entsteht ein Dialog, der im Lager undenkbar war.

Den Zuschauenden verlangen die drei Film-Kapitel, die dem Prozessverlauf von der Anklage bis zum Urteil folgen, einiges ab. Es fällt relativ leicht, in den Strom der Erinnerungen einzutauchen, doch fühlt man sich mit dem, was berichtet wird, oftmals alleingelassen. Denn bei Fechner sind vor der Kamera alle gleich: Die Auftretenden werden als „Zeuge“ oder „Angeklagter“ eingeführt, aber in der jeweiligen Szene nicht beim Namen genannt. Einen Off-Kommentar gibt es nicht. All das unterstreicht Fechners Anspruch, als unvoreingenommener Beobachter zu agieren. Das Publikum soll sich allein auf Grundlage der Aussagen ein Bild machen. Gut, dass man sich alles Weitere – im Gegensatz zu den 80er-Jahren – später im Netz besorgen kann.

Info: „Der Prozess“ (D 1975-1984), Buch und Regie: Eberhard Fechner, Schnitt: Jannet Geffken. Jetzt auf DVD

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