Kultur

Filmtipp „Der marktgerechte Mensch“: Wie Konkurrenz die Gesellschaft ruiniert

Was der Wirtschaft nutzt, hat mitunter fatale Folgen: Der Dokumentarfilm „Der marktgerechte Mensch“ zeigt, wie immer mehr Arbeitnehmer*innen zu Einzelkämpfer*innen werden. Doch es gibt Hoffnung.
von ohne Autor · 17. Januar 2020
Symbol für die Ausbeutung atomisierter Mitarbeiter: Die „1000 Gestalten“ am Rande des G20-Gipfels in Hamburg
Symbol für die Ausbeutung atomisierter Mitarbeiter: Die „1000 Gestalten“ am Rande des G20-Gipfels in Hamburg

Die Dokumentationen, die die Hamburger Filmemacher Leslie Franke und Herdolor Lorenz seit Jahren auf den Markt bringen, sind immer auch als Ausdruck gesellschaftlichen Engagements zu sehen. Die vor allem über Subskriptionen finanzierten Filme sollen aufrütteln und aufklären. In „Wer rettet wen?“ und „Der marktgerechte Patient“ befassten sich die beiden mit den Folgen der Finanzkrise und den Missständen im deutschen Gesundheitssystem.

Rigoroses Konkurrenzdenken und zunehmende Isolation

„Der marktgerechte Mensch“ baut in gewisser Weise darauf auf. Auch hier skizzieren Franke und Lorenz, wie sich seit den Nullerjahren und dem Primat der Ökonomisierung vieler Lebensbereiche ein Berg von Problemen angehäuft hat. Gegenstand der Betrachtung ist der deutsche Arbeitsmarkt. In vielen Bereichen, so der Befund, haben sich ein rigoroses Konkurrenzdenken und eine zunehmende Isolation unter den Arbeitnehmer*innen ausgebreitet. Beides spielt den Interessen der Wirtschaft in die Hände. Begünstigt wird das Ganze durch einen zunehmenden Ego-Kult, der nicht nur in sozialen Netzwerken ausgelebt wird.

In Zeiten einer gewaltigen Entsolidarisierungsmaschinerie werden Beschäftigte, wie es Sozialforscher*innen formulieren, atomisiert. Jeder kämpft für sich allein. Immer wieder wird dies mit Aufnahmen von den „1.000 Gestalten“ illustriert: Von Kopf bis Fuß mit grauem Lehm bedeckt, wanken die Aktionskünstler*innen am Rande des G20-Gipfels 2017 in Hamburg wie „Zombies des Kapitalismus“ über den Asphalt.

Fast unmöglich, sich zusammenzuschließen

Möglich wird diese Vereinzelung zum Beispiel durch „smarte“ Geschäftsmodelle. Für einen Essens-Lieferdienst tätige Fahrradkuriere berichten, wie nicht Betriebsvereinbarungen, sondern ein Algorithmus ihren Arbeitsalltag bestimmt. Haben sie aus dessen Sicht zu wenige Aufträge am Tag erledigt, werden sie aussortiert. Weil sich die Kuriere, die sich offiziell als Selbständige verdingen, untereinander kaum kennen, ist es fast unmöglich, sich zusammenzuschließen und für faire Bedingungen einzusetzen.

Dass Arbeitnehmer*innen in vielen Branchen zunehmend auf sich selbst zurückgeworfen sind, macht auch der Blick auf den Bekleidungshandel deutlich. Mitarbeiterinnen schildern, wie sie angesichts „flexibler“ Verträge mit einer Mindeststundenzahl arbeiten. Viele müssen mit Leistungen des Jobcenters aufstocken, wenn der Branchenriese mal wieder die Stundenzahl herunterfährt, weil es rentabler erscheint. So wird das unternehmerische Risiko auf die Belegschaft abgewälzt, die angesichts mehrfach befristeter Arbeitsverträge ohnehin um ihre Zukunft bangt.

Mit mageren Honoraren abgespeist

Ob Hochschulen, Lkw-Fahrer oder Unternehmen im Bereich Erneuerbarer Energien: Franke und Lorenz machen jene Atomisierung an vielerlei weiteren Beispielen deutlich. Ganz zu schweigen von der Beschäftigungsform des Crowdworking: Auftraggeber*innen verteilen Texte und andere Kleinstprojekte weltweit an Freelancer*innen, die sich damit abfinden, mit magereren Honoraren abgespeist und bei ihrer Arbeit am Rechner überwacht zu werden.

Sachlich berichten die Betroffenen aus ihrem Leben und machen Fehlentwicklungen, die mitunter eine Folge umstrittener politischer Entscheidungen sind oder durch Untätigkeit aufseiten der Politik ermöglicht werden, konkret. Somit ist der Film nicht nur äußerst engagiert, sondern auch informativ, wenngleich ein Off-Kommentar, der die Gesprächssequenzen in einen größeren Kontext einrahmt, fehlt.

Alternativen sind möglich

Dass all diese Kennzeichen gegenwärtiger Beschäftigungsformen mit dem gesunden Menschenverstand unvereinbar sind, liegt auf der Hand. Die, mitunter als innovativ empfundene oder zumindest entsprechend vermarktete, Vereinzelung widerspricht aber auch der menschlichen Natur. Entwicklungspsychologen machen das an praktischen Beispielen deutlich. So steht die Hoffnung im Raum, dass sich nur genug Menschen dessen bewusst werden müssen, um etwas zu verändern.

Und im Kleinen hat sich durchaus etwas verändert. Das zeigt eine wachsende Zahl von Unternehmen in Deutschland, die sich verbindlichen Gemeinwohl-Kriterien verschrieben haben. Ihr ökonomischer Erfolg ist mitunter ungewiss, doch die Alternative zum Ellenbogen-Modell steht klar im Raum. Zu diesem und weiteren im Film präsentierten Beispielen passt, dass die „1.000 Gestalten“ am Ende ihre grauen Kleider abstreifen und neue Kraft schöpfen.

Menschengerechter Markt ist möglich

In Sachen Erzählweise und Bildsprache könnte „Der marktgerechte Mensch“ dynamischer und subtiler sein. Jedoch schärft der Film das Bewusstsein für die düstere Seite der oft in so leuchtenden Farben gemalten Welt von Konsum und Dienstleistungen. Und dafür, dass ein menschengerechter Markt nicht nur nötig, sondern auch möglich ist.

Info: „Der marktgerechte Mensch“ (Deutschland 2020), ein Film von Leslie Franke und Herdolor Lorenz, 99 Minuten

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