Filmtipp „Der Mann, der seine Haut verkaufte“: Ticket zur Freiheit?
Tiefer kann eine Liebe zwischen zwei Menschen kaum sein. Das lassen einen Sam Ali und Abeer schon nach wenigen Augenblicken spüren. Doch in Assads Syrien gibt es für diese Liebe keinen Platz. Aber vielleicht in Europa? Dafür braucht es allerdings ein Schengen-Visum. Nach seiner abenteuerlichen Flucht in den Libanon stellt Sam Ali allerdings fest, dass das begehrte Papier für ihn unerreichbar ist. In Beirut offenbart sich ihm ein unerwarteter Ausweg. Der weltberühmte Künstler Jeffrey Godefroi will mit Sam Alis Hilfe ein neues Kunstwerk erschaffen und damit durch die Welt reisen.
Im Grunde wird der junge Mann selbst zum Kunstwerk. Ausgerechnet ein europäisches Schengen-Visum wird ihm Godefroi auf den Rücken tätowieren. Das rettende Dokument, verewigt in der Haut eines Menschen, der dem Assad-Regime nur knapp entkommen ist: Was für eine herrliche Provokation in diesen Zeiten, wo Migration und Geflüchtete die politischen Debatten bestimmen. Der erhofften Freiheit und Glückseligkeit kommt Sam Ali, nunmehr gefangen in den Zwängen des internationalen Kunstbetriebs, nicht unbedingt näher. Das zeigt sich schon bei einer symbolhaften Szene im Atelier des Maestros. Mit freiem Oberkörper wartet er auf den ersten Stich. Genauso schutzlos und zum reinen Objekt verkommen harrte er einst auch im syrischen Folterknast der Dinge.
Gegensätzliche Welten werden zusammengeführt
Mit einer Mischung aus Satire, Märchen und Tragödie erzählt „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ von völlig gegensätzlichen Welten. Es geht um die zynischen Mechanismen einer Kunstszene, die nur darum kreist, Ideen kommerziell zu verwerten und aus Menschen eine Marke zu machen. Godefroi liefert dazu den kunsttheoretischen Überbau. Wie ein Mephisto macht er den Geflüchteten mit einer ihm fremden Welt vertraut.
Der Künstler will nicht seine Seele, sondern seine Haut. Somit führen die gemeinsamen Wanderungen durch die Sphären von Geist und Kunst recht schnell auf den Boden der Business-Tatsachen zurück. Es geht aber auch darum, wie diejenigen, die – in den sarkastischen Worten des Protagonisten – auf der „richtigen Seite“ geboren wurden, auf jene schauen, die vor Krieg und Terror flüchten.
Reales Vorbild für den Titelhelden
Sam Alis tätowierte Haut wird zur Goldgrube. Menschenrechtsaktivisten sind empört. Er begegnet all den Akteur*innen auf Augenhöhe und verliert sein eigentliches Ziel nie aus den Augen. Daraus erwächst eine besondere Dynamik. Wie lange ist er bereit, sich als Objekt ausstellen zu lassen, zumal der gemeinsamen Zukunft mit Abeer weiterhin viele Hindernisse im Weg stehen? Mit einem radikalen Auftritt hält er dem erlauchten Kunstpublikum den Spiegel vor.
Der Film der tunesischen Regisseurin und Drehbuchautorin Kaouther Ben Hania basiert auf einem realen menschlichen Kunstwerk. „Tim“ provoziert(e) auf andere Weise: Im Jahr 2008 tätowierte der belgische Konzeptkünstler Wim Delvoye eine Punk-Kreuzigungsszene auf den Rücken eines Zürcher Tattoo-Studio-Besitzers namens Tim Steiner. Gegen Bezahlung und frei von jeglichen Zwängen ließ er sich in Galerien ausstellen und erklärte sich bereit, nach seinem Tod die tätowierte Haut operativ entfernen und öffentlich präsentieren zu lassen.
Bilder zwischen Ästhetisierung und Persiflage
Der Film schwelgt in Bildern, die die Inszenierung des menschlichen Körpers auskosten: ein elegantes Mäandern zwischen Ästhetisierung und Persiflage. Dabei gibt es auch Raum für Skurriles. Monica Bellucci verkörpert eine Künstler-Assistentin, die alles der Perfektionierung von Godefrois neuem „Werk“ unterordnet. Mit ihrer blonden Perücke und der herablassenden Art versinnbildlicht sie die Blasiertheit einer auf Events und Marketing getrimmten Kunstwelt, ohne dabei zur überzeichneten Karikatur zu verkommen.
Im Mittelpunkt bleibt aber stets die komplizierte Liebesgeschichte von Sam Ali und Abeer. Sie steht für die vielen Tragödien, die mit dem Untergang Syriens und anderen gewaltsamen Konflikten verbunden sind. Mit diesem Blick auf reale Schicksale knüpft die 45-Jährige an bisherige Arbeiten an. Im Jahr 2017 zeigte sie in Cannes ihren Film „Aala Kaf Ifrit“ („La belle et la meute“). Dieser hat den Fall einer von drei Polizisten vergewaltigten Frau zum Hintergrund, die von der Justiz wegen unsittlichen Verhaltens belangt wurde.
Internationale Resonanz für das Drama
Auch „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ hat bereits viel internationale Aufmerksamkeit genossen. Seine Premiere feierte der Film 2020 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig. Eine der beiden Auszeichnungen ging an den syrischen Hauptdarsteller Yahya Mahayn. Für die Oscarverleihung 2021 wurde dieses berührende Drama, das geschickt mit Tonalitäten jongliert und zugleich unmissverständlich an die Menschlichkeit appelliert, als bester Internationaler Film eingereicht und später auch von der Academy nominiert.
Info: „Der Mann, der seine Haut verkaufte" (Tunesien, Frankreich, Belgien, Deutschland, Schweden 2020), ein Film von Kaouther Ben Hania, mit Yahya Mahayni, Dea Liane, Koen De Bouw, Monica Belluccii u.a., 108 Minuten, FSK ab zwölf Jahre
Ab dem 10. März exklusiv als Video on Demand unter www.dermannderseinehautverkaufte-film.de.