Filmtipp „Das Mädchen mit den goldenen Händen": Ein sehenswertes Drama
Wenn ein Film mit der Vorbereitung eines Festes beginnt, droht meist das Schlimmste. So auch hier. Mit äußerstem Tempo und äußerster Anspannung hetzt Gudrun (Corinna Harfouch) auf dem Fahrrad zu dem verfallenen Herrenhaus in einem ostdeutschen Provinzstädtchen. Am Abend feiert sie dort mit Familie und Freunden ihren 60. Geburtstag. Sogar ihre Tochter Lara (Birte Schnöink), die der Gegend schon lange den Rücken gekehrt hat, ist aus Berlin angereist. Es wird eine ausgelassene Feier. Bis der Bürgermeister die Bombe platzen lässt: Das marode, für die Party provisorisch hergerichtete Gemäuer soll an einen westdeutschen Investor verkauft werden.
Entwertet und bevormundet
Es folgt eine Geschichte um die Kollision von gegensätzlichen Hoffnungen und Interessen in einer abgehängten Region. Und um den verbissenen Kampf einer Frau, der es angeblich nur um die Sache geht. Und die wieder mal nicht merkt, dass sich niemand dafür interessiert. Und es geht auch darum, wie und warum sich viele Ostdeutsche bis heute durch „Wessis“ entwertet und bevormundet fühlen.
Nach der Offenbarung des Bürgermeisters ist Gudrun außer sich. Für sie ist der alte Kasten Heimat. Zu DDR-Zeiten befand sich darin ein Kinderheim. Dort wuchs das elternlose Kind nach dem Krieg auf. Zudem möchte sie das Gebäude mit ihren Freunden zu einem offenen Treffpunkt umbauen. Hätte Gudrun, die mit zwischenmenschlicher Nähe Probleme hat, doch nur geahnt, dass die Menschen, die sie an ihrer Seite glaubte, die Investorenpläne für ein Hotel durchaus begrüßen.
Eine Jugend in der DDR
Es geht aber auch um eine Tochter, die verstehen will, wie ihre Mutter zu dieser kompromisslosen, aber auch verletzlichen Person geworden ist. Dafür erforscht sie Gudruns Leben als junge Frau in der frühen DDR. Und gleichzeitig auch ihre Familiengeschichte. Ihren leiblichen Vater hat Lara nie kennengelernt. Nun scheint sie der Wahrheit näherzukommen. Liegt darin der Schlüssel für Gudruns Verhalten, die ihrer Tochter meist mit Kälte und Desinteresse begegnet?
„Das Mädchen mit den goldenen Händen“ spielt im Jahr 1999. Diese in vielerlei Hinsicht aufgeladene Zeit hat Schauspielerin Katharina Marie Schubert („Ein Geschenk der Götter“) für ihr Langfilm-Debüt als Regisseurin bewusst gewählt. Der Mauerfall liegt zehn Jahre zurück. Die Umbrüche der folgenden Jahre wirken nach. Die Gräben zwischen Ost- und Westdeutschen sind längst nicht überwunden. Und die nahende Jahrtausendwende sorgt für zusätzliche Unsicherheit.
Verstehen, nicht verurteilen
In diesem Film ist die Vergangenheit eine Hypothek. Sie ist aber auch der Schlüssel, um Gudruns Auftreten, das immer wieder für einen Eklat sorgt, und auch das komplizierte Mutter-Tochter-Verhältnis zu verstehen. Lara will, nach anfänglichen Trotzreaktionen, verstehen. Was vergangen ist, wird keinesfalls über Rückblenden erschlossen. Vielmehr steht es während dieser Spurensuche immer wieder im Raum. Als wäre es nie vergangen.
Aber auch die Regisseurin und Autorin, die gut sieben Jahre an dem Drehbuch gearbeitet hat, möchte, dass das Publikum Verständnis für Gudrun und andere Figuren aufbringt. Sie verzichtet darauf, sie vorzuführen, im moralischen Sinne zu kategorisieren oder sonst wie über sie zu urteilen. „Das ist für mich die Essenz einer Tragödie: Immer der, der gerade spricht, hat recht“, sagt Schubert über ihr Werk. Dieser unvoreingenommene, gleichwohl präzise Blick macht diesen Film so wertvoll und hebt ihn von vielen anderen Produktionen zur Wende- und Nachwendezeit ab.
Beeindruckende Tour de Force
Für Hauptdarstellerin Corinna Harfouch ist die Rolle der Gudrun wie geschaffen. Wie schon in „Lara“ (2020) verkörpert sie eine verschlossene und wenig feinfühlig agierende Person, deren facettenreicher Charakter Schicht um Schicht freigelegt wird und die schließlich in einem ganz anderen, fast schon sympathischen Licht erscheint.
„Das Mädchen mit den goldenen Händen“ ist aber keinesfalls eine Solo-Show für eine Schauspielerin, die erneut eine, auch im physischen Sinne, beeindruckende Tour de Force abliefert. Vielmehr handelt es sich um einen großartigen Ensemblefilm mit etlichen Darstellern, die verdienten Werken über die Befindlichkeiten im vereinten Deutschland ihren Stempel aufgedrückt haben. Etwa Gabriela Maria Schmeide als resolute Cafébetreiberin. Oder Jörg Schüttauf als umtriebiger Bürgermeister, der Gudrun im Streit um das Herrenhaus den Spiegel vorhält: „Für dich sind wir hier doch nur irgendwelche Würstchen.“
Klischeefreie Bilder
Die besondere Wirkung des Films – sein Titel ist einem Märchen der Brüder Grimm entlehnt – speist sich nicht zuletzt aus einem besonderen Formbewusstsein. Lange Einstellungen lassen die Figuren und die inneren wie äußeren Konflikte atmen, betten sie in einen ruhigen Erzählfluss ein. Aber auch das sorgfältig choreografierte, keinesfalls klischeehafte Szenenbild zum ostdeutschen Kleinstadtleben in den 90er-Jahren kommt dadurch besonders gut zur Geltung und schafft eine intensive, nahezu märchenhafte Atmosphäre.
Info: „Das Mädchen mit den goldenen Händen“ (Deutschland 2021), ein Film von Katharina Marie Schubert, Kamera: Barbu Bălăşoiu, Szenenbild: Juliane Friedrich, mit Corinna Harfouch, Birte Schnöink, Peter René Lüdicke, Jörg Schüttauf, Gabriela Maria Schmeide u.a.
https://www.wildbunch-germany.de/movie/das-maedchen-mit-den-goldenen-haenden
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