Kultur

Filmtipp „Das Lehrerzimmer“: bittere Lektion über das System Schule

Verdächtigungen statt Vertrauen: In dem Drama „Das Lehrerzimmer“ bekommt eine engagierte Lehrkraft die Strukturen des Systems Schule mit voller Wucht zu spüren. Ein packendes Spiegelbild unserer Gesellschaft.
von ohne Autor · 4. Mai 2023
Die Lehrerin Carla Nowak gerät zwischen alle Fronten.
Die Lehrerin Carla Nowak gerät zwischen alle Fronten.

Die Zwänge vergangener Zeiten sind weitgehend passé. Doch eines sind Schulen noch immer: Machtapparate. In kaum einem anderen Gemeinwesen sind die Machtstrukturen so offensichtlich. Auch die Lehrerin Carla Nowak zeigt sich in einer Schlüsselszene als vorbildliche Vertreterin der Obrigkeit. „Was im Lehrerzimmer passiert, bleibt im Lehrerzimmer“, antwortet sie auf die kritische Frage einer Interviewerin der Schülerzeitung an ihrem Gymnasium. Vorschrift ist nun mal Vorschrift.

Mit Schüler*innen auf Augenhöhe

Es ist eigentlich kein überraschender Satz aus dem Mund einer Lehrkraft. Doch von Carla Nowak hätte man ihn nicht unbedingt erwartet. Die idealistische Lehrerin ist neu hier und möchte mit alten Gewohnheiten brechen, den Schüler*innen auf Augenhöhe begegnen. Doch mit dieser Agenda hat sie es nicht leicht. Eine Serie von Diebstählen erschüttert den Campus. Nicht nur in Klassenräumen, auch im Lehrerzimmer verschwindet immer wieder Geld.

Im Rahmen einer „Null-Toleranz-Strategie“ geht die Schulleitung jedem Verdacht nach. Verdächtige sind schnell gefunden. Wasserdichte Beweise eher weniger. Verunsicherung und Denunziantentum unter Lernenden und Lehrenden nehmen zu. Auch in Carla Nowaks Klasse. In diesem aufgeheizten Klima muss sich die Lehrerin für Mathe und Sport den bohrenden Fragen der Nachwuchsjournalist*innen stellen. Dabei ahnt sie nicht, dass das Interview eine weitere Eskalationsstufe zündet. Und die junge Frau steckt mittendrin.

Schule als Brennglas

Regisseur und Co-Drehbuchautor Ilker Çatak („Es gilt das gesprochene Wort“) verarbeitet in dem Film eigene Erfahrungen aus der Schulzeit und fragt sich, wo das System Schule heute steht. Er konfrontiert uns mit einer Grenzsituation, deren Sprengkraft ungeahnte Ausmaße annimmt. In dieser Krise verfallen führende Vertreter*innen der Bildungseinrichtung in für überwunden geglaubte Muster, die nur bedingt kaschiert werden.

„Das Lehrerzimmer“ ist allerdings nicht oder nicht ausschließlich als Kritik am deutschen Bildungssystem zu verstehen. Der Fokus der Erzählung reicht weit über den Mikrokosmos Schule hinaus: Dieser erscheint als Brennglas der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Also einer zunehmend polarisierten und selbstgerechten Öffentlichkeit, in der jede*r die Wahrheit gepachtet hat und nicht in der Lage ist, seinem oder ihrem Gegenüber zuzuhören und andere Sichtweisen gelten zu lassen.

Welche fatalen Folgen so eine Zuspitzung mit sich bringt, exerziert der Film sehr alltagsnah anhand des Schullebens durch. Im Zentrum stehen Carla Nowak und ihre Schüler*innen. Mit einem kühlen und rationalen Plan versucht die Pädagogin, die Aufklärung der Diebstahlserie voranzutreiben. Doch dadurch wird nichts wirklich besser. Im Gegenteil: Die Lehrerin gerät zwischen alle Fronten und droht das Vertrauen sämtlicher Schulkinder zu verlieren. Schmerzlich muss sie erkennen, dass sich die Aufklärung kriminellen Handelns nicht wie ein mathematischer Beweis führen lässt. Auch andere Gewissheiten und Ideale kommen auf den Prüfstand.

Unklare Haltung

Was müsste an dieser Schule oder in unserer Gesellschaft anders, wenn nicht gar besser laufen? An dieser Stelle verweigert der Film, der auf der Berlinale uraufgeführt würde, jede Eindeutigkeit. Das ist im Sinne eines geistig flexiblen Kunstschaffens auch gut so. Umso offenkundiger sind die atmosphärische Dichte und die packende Wirkung dieses Films. Und zwar vom Anfang bis zum irritierenden Ende, das die offene Stoßrichtung des Ganzen auf die Spitze treibt.

Die beklemmende Wirkung ist vor allem das Verdienst von Hauptdarstellerin Leonie Benesch. Sie bringt uns eine Frau in einer permanenten Ausnahmesituation unglaublich nahe. Und das, obwohl wir kaum mehr von ihr wissen, als dass sie immer wieder versucht, auf ihr „pädagogisches Herz“ zu hören, anstatt dem Mainstream zu folgen. Für diese ebenso kraftvolle wie fein nuancierte Leistung wurde die 32-Jährige für den Deutschen Filmpreis nominiert.

Etwas Hoffnung

Ein Übriges leisten die verstörende, aber wohldosierte Musik und die akzentuierte Bildkomposition. Immer wieder lange Einstellungen mit einem begrenzten Blickfeld: Mit Carla Nowaks Augen bewegen wir uns durch den Schulbau aus den 60er-Jahren. Seine vordergründige Offenheit und Zweckmäßigkeit galten damals als modern. In dieser Geschichte mutet das Ambiente aus der Zeit gefallen an, wird mitunter gar zum labyrinthartigen Horror. Und nicht nur das: Die subtil eingefangene Architektur spiegelt das wider, was darin lebt: Erstarrung pur.

Wenn schon keine Utopie einer besseren Schule oder Gesellschaft, so hinterlässt „Das Lehrerzimmer“ immerhin eine zarte Hoffnung: Es ist nie zu spät, einen anderen Weg zu gehen. Carla Nowak macht es auf unvergessliche Weise vor.

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