Kultur

Filmtipp „Bettina“: Vom naiven Stalin-Fan zur singenden Protestikone

Mit dem Lied „Kinder“ wurde Bettina Wegner bekannt. In ihrem Gesamtwerk spiegeln sich die Brüche der jüngeren deutschen Geschichte wider. Der bewegende Dokumentarfilm „Bettina“ zeigt den Lebensweg einer bis heute unbequemen Künstlerin.
von ohne Autor · 20. Mai 2022
Ein kritischer und sensibler Geist: Bettina Wegner in den 70er-Jahren.
Ein kritischer und sensibler Geist: Bettina Wegner in den 70er-Jahren.

Auch im Gefängnis scheute sich Bettina Wegner nicht, der Obrigkeit der DDR unerschrocken zu begegnen. Weil ihr der Vernehmungsoffizier beim Tippen auf der Schreibmaschine zu langsam war, setzte sie sich selbst an das Gerät. Und tippte am Ende ihre eigene Vernehmung.

Ein Leben erzählt auf der Couch

Mehr als 50 Jahre später erzählt die Liedermacherin diese Episode auf ihrer Couch im Wohnzimmer. Derlei Szenen, in denen sie die absurden oder irrwitzigen Momente des Alltags im SED-Staat zum Leben erweckt, machen Lutz Pehnerts Film zu einem Schatz.

Brüche, Zerwürfnisse und Neuanfänge: Bettina Wegners Leben bietet reichlich Drama. Ende der 40er-Jahre zieht sie mit ihren Eltern – beide überzeugte Kommunisten – von West- nach Ost-Berlin. Sie wird zur glühenden Stalin-Anhängerin und reüssiert schon als Mädchen mit traurigen Liebesliedern. Mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten beginnt das Zerwürfnis mit dem DDR-Regime.

Stimme der Opposition

Die junge Mutter verteilt Protestzettel, landet im Gefängnis und muss sich in der Produktion „bewähren“. Später wird sie zu einer bekanntesten Stimmen der Opposition. Eine Platte veröffentlicht sie in der DDR nie. Auf Druck von oben reist sie 1983 nach West-Berlin aus. Ein weiterer Akt der Entwurzelung. An ihm leidet sie bis heute. „Drüben“: So nennt Bettina Wegner bis heute den Westen Berlins und die alte Bundesrepublik. Ende der 90er-Jahre wird es ruhig um die Künstlerin, die sich trotz all der Gesellschaftskritik nie als Protestsängerin gesehen hat.

Viele kennen Bettina Wegner, die im November 75 Jahre alt wird, für die Zeile „Sind so kleine Hände“ aus ihrem Lied „Kinder“. Ein Lied über gewaltfreie Erziehung, aus dem ihre kompromisslose humanistische Grundhaltung spricht und sie in Westdeutschland noch vor der erzwungenen Übersiedlung schlagartig bekannt macht. Dort veröffentlicht sie ab Ende der 70er-Jahre mehrere Platten und gibt dank eines Reisevisums Konzerte. In der DDR war das wegen ihres Protestes gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann so gut wie unmöglich geworden.

„Sind so kleine Hände...“

Dennoch empfand die Künstlerin diese Komposition lange Zeit als Fluch. Wer möchte sich schon auf einen einzigen Song reduzieren lassen? Auch Lutz Pehnerts Dokumentarfilm kommt an diesem unverhofften Hit nicht vorbei. Es ist aber nur eines von vielen Werken, von denen die Erzählung über den persönlichen und künstlerischen Werdegang der Protagonistin, die es zu ihren besten Zeiten wie kaum eine andere Musikerin verstand, eine eindringliche und pointierte Lyrik mit ebenso eindringlichen Melodien zu verbinden, zehrt.

Subtil arbeitet Pehnert heraus, wie eng Leben und Werk Bettina Wegners miteinander verknüpft sind. Dementsprechend sind die Überschriften einzelner Sinnabschnitte einem Lied entnommen, das den ethischen Kern dieser Künstlerin auf den Punkt bringt: „Gebote braucht der Mensch“. Darin heißt es etwa: „Lauter schrein, wenn andere schweigen.“ Laut und unbequem war Bettina Wegner häufig in ihrem Leben. Vor der Kamera agiert sie allerdings als warmherzige, sensible und selbstironische Erzählerin.

Schonungslos und humorvoll zugleich

Der Film skizziert die Weichenstellungen für ein kreatives Schaffen, das immer auch ein Spiegel der Zeit war. Er spannt einen Bogen von Bettinas Wegners Kindheit bis in die Gegenwart. Sie allein rekapituliert ihren Lebensweg. Mit Blick auf andere, weitaus gefälligere Bio-Pics über Musiker*innen erscheint das als ein heikler Ansatz.

Allerdings neigt Bettina Wegner keinesfalls zur Selbstbeweihräucherung. Stattdessen legt sie schonungslos, und zugleich humorvoll Momente des Strauchelns und des Zweifels offen, im Künstlerischen wie im Privaten. Die rückblickenden Interviewszenen werden mit Archivmaterial kombiniert.

Entlarvendes Dokument der DDR-Justiz

Parallel folgt der Film dem Verlauf des Prozesses wegen der Protestzettel. Zu Schulungszwecken wurde die Verhandlung seinerzeit mitgeschnitten. Über die Tonspur kehrt die Erzählung immer wieder in den Gerichtssaal zurück, wo sich die gerade mal 20 Jahre alte Angeklagte mit zarter Stimme, aber doch entschlossen verteidigt.

Es ist ein erschütterndes und entlarvendes Dokument zur Einstellung der DDR-Justiz gegenüber Menschen, die nichts anderes wollen, als ihre Meinung sagen. Ein dritter Erzählstrang verfolgt, wie sich Wegner und ihre Begleitband „L'art de Passage“ in jüngerer Zeit auf eines ihrer zunehmend selten gewordenen Konzerte vorbereiten. In diesen Szenen erhält der Prozess des „Liedermachens“ besonderes Gewicht.

Aufrecht im repressiven System

„Bettina“ kommt der Künstlerin und dem Menschen Bettina Wegner sehr nahe. Zugleich ist es der Versuch einer Bilanz und ein sehr persönlicher Rückblick auf ein repressives System, dass sich aufrechter Menschen entledigte und sie gerade dadurch fürs Leben zeichnete.

Info: „Bettina“ (Deutschland 2022), ein Film von Lutz Pehnert, 107 Minuten
salzgeber.de/bettina
Im Kino

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