Kultur

Filmtipp „Abteil Nr. 6": Per Bahn durch Russland in ein freies Leben

In der Jelzin-Ära in den 90er-Jahren überwindet eine einsame Finnin auf einer Bahnreise durch Russland kulturelle Grenzen. Das schwarzhumorige Drama „Abteil Nr. 6“ feiert die menschliche Wärme zwischen Schnee und Eis.
von ohne Autor · 1. April 2022
Leichtigkeit und Tiefe: Laura (Seidi Haarla) und Ljoha (Yuriy Borisov) kommen sich mühsam näher.
Leichtigkeit und Tiefe: Laura (Seidi Haarla) und Ljoha (Yuriy Borisov) kommen sich mühsam näher.

Wer sich im Winter auf eine touristische Reise nach Murmansk begibt, braucht schon ganz  besondere Beweggründe. Für die finnische Studentin Laura sind es uralte Felszeichnungen, die sie dort besichtigen möchte. Eigentlich wollte sie mit ihrer Freundin Irina von Moskau in die Hafenstadt nördlich des Polarkreises fahren. Doch nun steigt sie allein in den Zug. Das hippe Akademikerleben in der russischen Hauptstadt lässt sie hinter sich. Und auch Irina.

Laut, derb und grenzüberschreitend

Während der knapp 1.900 Kilometer langen Reise ist Laura allerdings nicht allein. Im Abteil trifft sie auf Ljoha. Der Russe ist das genaue Gegenteil des Bildes, das die reservierte, ständig mit der Videokamera hantierende Finnin abgibt: laut, derb und ständig Grenzen überschreitend. Und ziemlich trinkfreudig. Im Nu bedecken Flaschen und Gurkengläser den Tisch. Vor allem aber ist er auf keiner Lustreise: Ljoha fährt nach Murmansk, um im Bergwerk zu arbeiten.

Diese Konstellation ist zum Scheitern verurteilt, möchte man meinen. Tatsächlich kochen  in dem stickigen Abteil nicht nur positive Emotionen hoch. Und doch formt sich zwischen Laura und Ljoha mit jedem Kilometer durch verschneite Landschaften eine Beziehung, die zunächst weder das Publikum noch die beiden Protagonist*nnen durchdringen. Nähe und Distanz sind im stetigen Wechselspiel. Erst am Zielort formt sich ein klares Bild.

Eine gelebte Utopie

Den Horizont erweitern, neue Freiheiten entdecken: Dieser Aspekt ist der Kern klassischer Roadmovies. Im gewissen Maße gilt das auch für „Abteil Nr. 6“, wenngleich es sich um keinen üblichen Vertreter dieses Genres handelt: Laura und Ljoha kommen aus völlig verschiedenen sozialen Schichten und kulturellen Welten. Trotzdem nähern sie sich einander an. Sie leben eine soziale, wenn nicht gar sozialistische Utopie. Ist die Begegnung mit dem Anderen nicht immer auch eine Begegnung mit den unbewussten oder verdrängten Seiten unseres Selbst?

Dem finnischen Regisseur Juho Kuosmanen („Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“) geht es aber noch um etwas Anderes: Er will zeigen, warum es Freiheit bedeuten kann, sich auf das, was einen wirklich ausmacht, zurückzuziehen und seine wahre Natur zu erkennen, anstatt sich neu zu erfinden. Um diese Freiheit zu erreichen, macht Laura während des Endlos-Trips durch die winterliche Einöde – im Grunde eine permanente Begegnung mit dem Anderen über Ljoha hinaus – einiges durch.

Die 90erJahre: Hoffnung für Russland

Angesichts der bedrückenden Gegenwart in Russland reibt man sich wiederholt die Augen. Die Handlung spielt in den späten 90er-Jahren – eine Zeit, in der Reisen in und durch das Riesenreich mit der Erwartung einer immerwährenden Annäherung zwischen Europa und dem großen Nachbarn im Osten verbunden waren. Ein bisschen von dieser Euphorie ist auch in diesem keinesfalls nostalgischen, sondern eher lakonischen und mitunter düsteren und rauen Film zu spüren.

Kuosmanen setzt bei seiner Kreuzung aus arktischem Roadmovie, Drama und skurriler Romanze auf eine Tonalität, die bei aller Ironie und Zuspitzung immer auch einen stimmigen, äußerst realistisch gestalteten atmosphärischen Rahmen bietet, und zwar bis ins kleinste Detail.

Bedächtige und intensive Erzählung

Viele Szenen haben fast schon dokumentarischen Charakter. Gedreht wurde überwiegend im Zug und mit versteckten Mikrofonen. Auch daraus speist sich der besondere Sog dieser vom Tempo her sehr bedächtigen, aber nicht minder intensiven Erzählung, die von dem gleichnamigen Roman der finnischen Autorin Rosa Liksom inspiriert wurde.

Preise können ein Zeichen dafür sein, dass ein Film Brücken zu bauen vermag. Vor allem dann, wenn die Botschaft eben darum kreist. Beim Filmfestival in Cannes wurde „Abteil Nr. 6“ im vergangenen Jahr mit dem „Grand Prix“ ausgezeichnet. Außerdem stand er als Finnlands Oscar-Beitrag auf der Shortlist als „Bester Internationaler Film“.

Eklat um russischen Hauptdarsteller

Tatsächlich aber geriet der Film jüngst mitten hinein in die quälende Auseinandersetzung über die Frage, inwiefern Kunst und Künstler aus Russland angesichts des vom Kreml angezettelten Kriegs gegen die Ukraine in der Europäischen Union noch erwünscht sind. So hat die CineStar-Gruppe den Film wegen des russischen Hauptdarstellers Yuriy Borisov aus ihren Kinos verbannt, obwohl er sich klar gegen die Invasion ausgesprochen habe, wie der Verleih wissen lässt.

Die utopische Kraft dieser gleichsam Leichtigkeit und Tiefe atmenden und glänzend gespielten Geschichte um zwei besondere Figuren, die mehr gemeinsam haben als sie sich jemals hätten vorstellen können, wird durch diese nicht nachvollziehbare Entscheidung eines Kino-Multis nicht geringer.

Info: „Abteil Nr. 6“ (Finnland, Deutschland, Estland, Russland 2021), ein Film von Juho Kuosmanen nach dem Roman von Rosa Liksom, mit Seidi Haarla, Yuriy Borisov, Dinara Drukarova u.a., 106 Minuten, FSK ab zwölf Jahren, OmU

https://www.eksystent.com/abteilnr6.html

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