Filmtipp „100 Tage, Genosse Soldat“: Brutale Realität in malerischen Bildern
Mitten in der Nacht torkelt der Vorgesetzte in den Schafsaal und uriniert einem schlafenden Wehrdienstleistenden ins Gesicht. Ein anderer Rekrut schaut entsetzt zu. Nicht immer sind die Demütigungen und Misshandlungen, die eine Gruppe junger Soldaten erleiden, so drastisch und offensichtlich wie in dieser Szene. Meist werden sie nur angedeutet oder stehen als Möglichkeit im Raum. Das hat zur Folge, dass man permanent darauf wartet, dass (wieder) etwas Entwürdigendes passiert.
Tabus, die bis heute gültig sind
Als „100 Tage, Genosse Soldat“ vor 30 Jahren in der Sowjetunion erstmalig gezeigt wurde, war dies ein handfester Skandal. Die dunklen Seiten des ach so prestigeträchtigen Militärs zeigen? Und dazu Bilder mit deutlicher homoerotischer Schlagseite? So etwas hatte das sowjetische Kinopublikum bis dahin nicht zu sehen bekommen. Zwar war es in Zeiten von Glasnost und Perestroika möglich geworden, dass dieser und andere grundsätzlich pessimistische Filme über den Alltag in dem Riesenreich – der bekannteste dürfte „Kleine Vera“ sein – produziert und öffentlich aufgeführt werden. Und doch rührt die Verfilmung einer Erzählung des sowjetischen Schriftstellers Yuri Polyakov an Tabus, die im Nachfolgestaat Russland bis heute gültig sind.
Ein klarer Erzählfaden ist allerdings nicht zu erkennen. Im Mittelpunkt der Handlung stehen fünf junge Soldaten die in einem Schwebezustand zwischen unbeschwerter Gemeinschaft (zum Beispiel beim gegenseitigen Einseifen im Waschraum) und den unvorhergesehen Interventionen höherer militärischer Ebenen leben. Widerstand ist sinnlos: Immer wieder wird einem die Absurdität und Rücksichtslosigkeit militärischer Routinen vor Augen geführt. Was das für die untersten Befehlsempfänger bedeutet, macht der Film gleich zu Anfang mit einem eingeblendeten Psalm deutlich: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch – der Leute Spott und verachtet vom Volk.“
Systematische Schikane: Tradition im russischen Militär
Zum 30. Geburtstag seiner Entstehung kehrt „100 Tage, Genosse Soldat“ in digital restaurierter Fassung zurück. Im vergangenen Jahr lief der Film auf der Berlinale. Schon inhaltlich wird in gerade einmal 67 Minuten alles andere als leichte Kost geboten. Und dafür gibt es einen ganz realen Hintergrund: Das systematische Schikanieren von Soldaten hat im russischen Militär eine Tradition, die bis ins Zarenreich zurückreicht und weit über „Einführungsrituale“ hinausgeht.
Selbst in Zeiten, wenn Russland keinen Krieg führt, kommen auffallend viele Soldaten ums Leben. Und zwar im Zuge der sogenannten Dedowschtschina – der russische Begriff lässt sich mit „Herrschaft der Großväter“ übersetzen. Das bedeutet, dass der militärische Nachwuchs der Gewalt und Willkür der höheren Dienstgrade hilflos ausgesetzt ist. Internationales Aufsehen erregte 2006 der Fall des damals 19-jährigen Andrei Sytschow. Der Wehrpflichtige wurde von Vorgesetzten so malträtiert, dass ihm beide Beine, die Genitalien und Teile der rechten Hand amputiert werden mussten.
Reale Schrecken des Terrors von oben nach unten
Seit den 1970er-Jahren wütete dieser „Terror nach unten“ zunehmend im sowjetischen Militär. Diesen äußerst realen Schrecken kleidete der aus Usbekistan stammende Regisseur Hussein Erkenov seinerzeit in gnadenlos realistische Bilder, während er andererseits mit traumartigen und elegischen Motiven experimentelle Pfade beschritt.
Somit ist „100 Tage, Genosse Soldat“ schon rein ästhetisch keine Anklage im klassischen Sinne. Vielmehr nutzte Erkenov den realen Hintergrund, um eine rätselhafte Kunstwelt zu erschaffen. Kameramann Vladislav Menshikov schärft mit eindrucksvollen Close-Ups immer wieder das Bewusstsein fürs Individuum, inszeniert die Soldaten in nicht weniger kraftvollen Einstellungen aber auch immer als Masse, die von einer unsichtbaren Macht gelenkt wird.
Info: „100 Tage, Genosse Soldat“ („Sto dnei do prikasa“, UdSSR 1990), Regie: Hussein Erkenov, Drehbuch: Hussein Erkenov und Yuri Polyakov, Kamera: Vladislav Menshikov, mit Armen Daigarhanian, Lena Kondulainen, Aleksandr Chislov u.a., 67 Minuten, OmU, ab 16 Jahre.
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