Kultur

Film über Wirtschaftsflüchtlinge: Für immer gestrandet

Afrikaner, die in Italien ausgebeutet und angefeindet werden: Mit einer wahren Geschichte verleiht das halbdokumentarische Drama „Mediterranea“ den Geflüchteten ein Gesicht.
von ohne Autor · 16. Oktober 2015

Was heißt es eigentlich, ein sogenannter Wirtschaftsflüchtling zu sein? Oft fällt der Begriff, wenn vom Asylrecht und den „sicheren Herkunftsländern“ die Rede ist. Die Schicksale der Menschen, die aus Armut und Hoffnungslosigkeit die lebensgefährliche Reise nach Europa antreten, fallen in öffentlichen Debatten meist unter den Tisch. In „Mediterranea“ gibt ihnen der Regisseur und Drehbuchautor Jonas Carpignano ein Gesicht. Er erzählt von zwei Männern aus Burkina Faso, die sich auf eine Odyssee begeben. Zuerst durch die Wüste Algeriens und Libyens ans Mittelmeer. Und von dort nach Italien. Dass das Getrieben- und Ausgeliefert sein mit der Ankunft im vermeintlich gelobten gelobten Land keinesfalls endet, wird überdeutlich vor Augen geführt.

Migranten ermordet

Vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingszahlen ist dieser Film hochaktuell, wenn nicht gar brisant. Doch sein eigentlicher Ursprung liegt woanders. Nämlich in Rosarno. Der Ort in Kalabrien ist sozusagen Italiens Hoyerswerda. Dort wurden vor fünf Jahren zwei Migranten ermordet. Anschließend ging ein Mob von Alteingesessenen auf afrikanische Einwanderer los, es wurde geschossen, 67 Menschen wurden verletzt. Als Konsequenz ließen die Behörden die Afrikaner abtransportieren. Einen Kurzfilm zum Alltag jener Zuwanderer in dem Provinzort hatte Carpignano bereits im Kasten.

In seinem neuen Film greift er das Thema in seiner ganzen epischen Dimension auf. Dazu gehört natürlich auch die Vorgeschichte, also die Flucht aus dem Elend. Ayiva nimmt sie auf sich, um seiner Tochter in Burkina Faso Geld schicken zu können. Mit dabei ist sein Freund Abas. Carpignano begleitet sie mit wackliger Handkamera auf ebensolchen Lastwagen in der Sahara und auf einer Nussschale im Mittelmeer. Die atmosphärische Dichte dieser Episoden raubt einem schier den Atem. Was macht es mit einem Menschen, fast niemandem um sich herum trauen zu können, weil man jederzeit erschossen oder ausgeraubt werden kann? Ganz zu schweigen von einer stürmischen Überfahrt ohne Steuermann? Wer heute leichtfertig über Asylbewerber herzieht, die sich in deutschen Unterkünften nicht vorschriftsmäßig verhalten, sollte allein diese im mehrfachen Sinne düsteren Szenen gesehen haben.

Als Tagelöhner auf der Obstplantage

Angekommen in Kalabrien, schaltet die Erzählweise in Sachen Dramatik einen Gang zurück. Stattdessen wird die Doppelbödigkeit und Widersprüchlichkeit der Menschen und der sozialen Verhältnisse in der von Mafia und Arbeitslosigkeit gebeutelten Region sorgsam entblättert. Mit Afrikanern wollen die meisten dieser Kalabresen im Alltag nichts zu tun haben, ein billiger Blowjob von einer der jungen Frauen in den abgerissenen Behausungen geht aber in Ordnung. Die Männer hingegen landen in der Regel als Tagelöhner auf Obstplantagen. So auch Ayiva und Abas. Ihr Chef beutet sie schamlos aus. Andererseits lädt er Ayiva an seine Familientafel. Und da wäre noch die alte Dame, die die illegalen Einwanderer bekocht und sich „Mama Africa“ nennt.

Ayiva schöpft alle Möglichkeiten aus, den „vorbildlichen Einwanderer“ zu geben. Zunehmend wird ihm aber klar, dass das nicht genügt, um sich über Wasser zu halten. So begeht er, wie die anderen auch, kleine Gaunereien. Als die ohnehin feindselige Haltung der Bevölkerungsmehrheit in Gewalt umschlägt, steht er vor einer schwierigen Entscheidung.

Zeitlose Geschichte

Wenn Carpignano den „Wirtschaftsflüchtlingen“ ein Gesicht gibt, heißt das, dass er mit starken Charakteren eine, vor allem in den Köpfen der Zuschauer, mit zahllosen tagespolitischen Konnotationen versehene, aber letztendlich zeitlose Geschichte erzählt. Die Stärke dieses Films liegt gerade darin, dieses Thema weder moralisch zu überhöhen noch mit einer politischen Haltung auf eine didaktische Ebene zu heben: Einheimische wie Flüchtlinge haben Stärken und Schwächen, niemand wird verklärt oder angeklagt. Das macht diesen Film über die gesamte Länge hinweg so berührend.

Gleichwohl hofft Carpignano, mit seinem Film die Debatte über eine künftige Asylpolitik in Europa und die Einstellung der Bevölkerung gegenüber Flüchtlinge beeinflussen zu können, wie er in einem Interview sagte: „Mir würde es schon reichen, wenn die Leute diese Einwanderer nicht als Gruppe, sondern als Individuum betrachtet.“

Semidokumentarisches Gesamtbild

Sämtliche Darsteller sind im Übrigen Laienschauspieler. Deren Leistung beeindruckt zutiefst. Das stimmige, weil semidokumentarische Gesamtbild aus Menschen und Schauplätzen ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass der 30-jährige Filmemacher – Sohn einer Afroamerikanerin und eines Amerikaners mit italienischen Wurzeln – während der Vorbereitungszeit tief in das lokale Milieu eingetaucht ist. Mehrere Monate lag teilte er sich mit Koudous Seyhon alias Ayiva eine Wohnung. Letztendlich erzählt dieser Film dessen Geschichte. Seine reale Situation dürfte weiteren aufwühlenden Stoff abwerfen: Seit sechs Jahren lebt der Mann aus Burkina Faso in Italien. Seine Tochter darf ihn bis heute nicht besuchen. Und auch für Seyhon bleibt die Reisefreiheit, zumal innerhalb Europas, ein Traum.

Mediterranea (Italien, Frankreich, Deutschland, USA, Katar ), ein Film von Jonas Carpignano, mit Koudous Seihon, Alassane Sy, Pio Amato u.a., 107 Minuten, OmU. Jetzt im Kino.

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