Film über Rabiye Kurnaz: „Was, wenn Murat Thomas geheißen hätte?“
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Der Fall von Murat Kurnaz liegt fast 20 Jahre zurück. Warum dieser Film gerade jetzt?
Andreas Dresen: Das haben wir uns nicht ausgesucht. Es hat einfach sehr lange gedauert, den Stoff zu entwickeln. Zu Anfang hatte ich mich natürlich für die Geschichte von Murat Kurnaz interessiert. Ich hatte sein Buch gelesen und was er dort beschreibt, hat so an mein Unrechtsbewusstsein appelliert. Ich finde es unfassbar, dass es so etwas wie Guantanamo gab und bis heute ja leider noch gibt. Dass ein junger Mann dort für fünf Jahre unschuldig eingesperrt und gefoltert wird und die deutsche Politik nichts dagegen tut. Nach vielen Gesprächen mit Murat habe ich aber gemerkt, dass ich mit seiner Perspektive nicht weiterkomme. Wenn man Guantanamo von innen erzählen will, ist es nur noch kafkaesk und völlig hoffnungslos. So ist die Idee entstanden, die Geschichte aus der Sicht seiner Mutter Rabiye zu erzählen. Sie ist einfach zauberhaft.
Laila Stieler: Die Perspektive der Mutter hat mir auf Anhieb gefallen. Einen Film über Murat Kurnaz in Guantanamo hätte ich nicht schreiben können, diese Hoffnungslosigkeit hätte ich nicht erzählen können. Mir war zwar wichtig, diesen speziellen Fall zu beschreiben, und auch genau zu beschreiben, aber mit der Perspektive der Mutter gewinnen wir darüber hinaus nochmal eine andere Universalität.
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Der Antrieb, diesen Film zu machen, war also das geschehene Unrecht an Murat Kurnaz?
Dresen: Ja, ganz klar. Und dieses Unrecht ist noch nicht vorbei, auch wenn Murat seit 15 Jahren wieder zuhause in Bremen ist. Seit mehr als 20 Jahren sitzen Menschen unter extremen Bedingungen ohne Gerichtsverfahren in Guantanamo. Und die Welt hat sich damit arrangiert. Im Zusammenhang mit Murat Kurnaz finde ich besonders empörend, wie sich die deutsche Regierung verhalten hat. Sie hat ihm ihre Hilfe verweigert, nur weil er einen türkischen Pass hatte. Das ist skandalös. Und leider ist die deutsche Politik bis heute nicht bereit, zuzugeben, dass das ein riesengroßer Fehler war, menschlich und politisch.
Stieler: Insofern ist Murats Geschichte eigentlich noch nicht zu Ende.
Dresen: Ja, sie ist überhaupt noch nicht zu Ende. Dieser Familie ist Unrecht geschehen. Und dieses Unrecht wirkt weiter.
Kämpft Bernhard Docke, der Anwalt von Rabiye Kurnaz, noch weiter um eine Anerkennung dieses Unrechts?
Dresen: Nein. Juristisch ist der Fall am Ende. Aber es gibt ja andere Möglichkeiten, Öffentlichkeit herzustellen und im besten Fall Gerechtigkeit zu erreichen. Unseren Film zum Beispiel. So hat die Familie Kurnaz zumindest das Gefühl, ihr Schicksal interessiert und sie wird gehört. Das ist für mich ein Teil der moralischen Wiedergutmachung. Murat Kurnaz wurden immerhin fünf Jahre seines Lebens geklaut.
Wie sieht er den Fall eigentlich inzwischen?
Dresen: Ich bin immer wieder beeindruckt, wie gelassen er damit umgeht. Bei einem unserer Gespräche habe ich ihn mal gefragt, ob er die Amerikaner eigentlich hassen würde. Darauf hat er nur geantwortet: Warum sollte ich das tun? Es gab ja selbst unter den Bewachern solche und solche. Er ist da wirklich souverän.
Stieler: Ich würde sogar sagen sanftmütig. Das hat sicher mit seinem Glauben zu tun, der ja oft als etwas grundsätzlich Aggressives dargestellt wird.
Wie haben Murat, seine Mutter und Bernhard Docke reagiert als Sie Ihnen gesagt haben, dass sie Ihren Film aus ihrer Perspektive erzählen wollen?
Dresen: Sie haben sofort verstanden, was wir vorhaben und waren sehr offen. Mein Problem, dass ich nicht wusste, wie man Guantanamo aus der schönen, gesicherten, deutschen Perspektive erzählen kann, konnten sie gut nachvollziehen. Die Dinge, die Murat mir erzählt hat, sind so ungeheuerlich, dass ich sie mir einfach nicht vorstellen kann. Wie hätte ich sie also inszenieren sollen? Ein Ausgangspunkt, über die Perspektive von Mutter und Anwalt nachzudenken, war übrigens eine kleine Begebenheit, die mir Bernhard Docke erzählt hat. Da fuhren die beiden in New York im Taxi und als der Fahrer mitbekam, warum die beiden in der Stadt sind, ließ er sie umsonst mitfahren, weil er sich nicht mehr für sein Land schämen wollte, wie er sagte. Diese Szene findet sich auch in unserem Film wieder. Laila hat sie im Drehbuch sehr schön weiterentwickelt.
Sie erzählen ja im Grunde eine David-gegen-Goliath-Geschichte.
Stieler: Genau das. Dass eine türkische Hausfrau aus Hemelingen schließlich vor dem Supreme Court steht und den amerikanischen Präsidenten verklagt, könnte sich kein Drehbuchschreiber besser ausgedenken. Aber es ist ja wirklich passiert. Das Spannende an dem Film ist, dass die Perspektive, die wir erzählen, kaum jemandem bekannt war.
Obwohl einen die Geschichte und das Schicksal von Murat Kurnaz fassungslos machen, gibt es in Ihrem Film auch viele witzige Momente, was vor allem an Hauptdarstellerin Meltem Kaptan liegt. Wie groß war die Gratwanderung?
Stieler: Rabiye Kurnaz ist einfach eine verrückte, kraftvolle Frau. In den Begegnungen mit ihr, in unseren Gesprächen haben wir nicht nur über das Leid gesprochen, das ihr widerfahren ist, sondern auch viel gelacht. Das ist ihre Überlebensstrategie. So hat sie durchgehalten. Also hab ich die Figur auch so angelegt. Und Meltem Kaptan hat das auf wunderbare Weise verstanden, und sie stellt die Rabiye auch so dar. Als eine Frau mit einem wahnsinnigen Lebensmut, die gegen Wände rennt, hinfällt und immer wieder aufsteht.
Dresen: Ich mag dieses Gefälle, das der Film hat. Abgesehen davon, dass ich ein Fan von Tragik-Komödien bin, könnte ich keinen Film drehen, der überhaupt keinen Humor hat. Lachen kann schließlich eine anarchisch befreiende Kraft sein, gerade, wenn es um politische Verhältnisse geht. Im Schnitt dann die Balance zu finden, war allerdings nicht ganz einfach. Da wegen Corona keine Testvorführungen möglich waren, war die Berlinale unsere wirkliche Premiere vor einem großen Publikum und ich war sehr erleichtert, dass die Menschen an den richtigen Stellen gelacht haben.
Stieler: Sie müssten Rabiye Kurnaz und Bernhard Docke im wahren Leben erleben. Er läuft vorneweg und sie schimpfend hinterher. Er ist immer fünf Minuten vor der verabredeten Zeit da, sie kommt eine halbe Stunde zu spät, wenn überhaupt. Diese Gegensätze zwischen den beiden zu erleben und im Drehbuch auszubauen, war für mich sehr reizvoll. Beim Schreiben hat mir übrigens sehr geholfen, dass ich die schwierigen juristischen Zusammenhänge über Rabiye spiegeln konnte. Im Film stellt sie die Fragen, die ich mir auch gestellt habe, und Bernhard erklärt sie ihr und damit stellvertretend uns allen.
Fühlen die beiden sich gut getroffen?
Dresen: Das war eine spannende Frage. Wir hatten etwa zehn Tage vor der Premiere auf der Berlinale eine Vorführung für die Familie in Bremen. Davor waren wir wahnsinnig aufgeregt. Für uns wäre es ein Desaster gewesen, wenn sich eine der Personen falsch wiedergegeben gefühlt hätte. Zum Glück kam uns nach der Vorführung aber eine Welle der Wärme und Herzlichkeit entgegen. Ich denke, für Rabiye und Bernhard ist dieser Film nach ihrem jahrelangen Kampf in gewisser Weise auch ein Geschenk.
Was sollten die Zuschauer*innen aus dem Film mitnehmen?
Dresen: Der Film zeigt, dass die Verhältnisse, in denen wir leben, menschengemacht sind und verändert werden können. Wenn man produktiv-zornig das Kino verlässt, ist schon einiges gewonnen.
Stieler: Ich wünsche mir, dass die Zuschauer sich fragen: Was wäre eigentlich gewesen, wenn Murat nicht Murat Kurnaz sondern Thomas Meier geheißen hätte? Wäre er dann auch 5 Jahre in Guantanamo inhaftiert gewesen?
Wen wünsche Sie sich als Zuschauer*innen?
Dresen: Frank-Walter Steinmeier sollte den Film auf jeden Fall sehen.
Stieler: Ich wünsche mir Angela Merkel und viele Vertreter der türkischen Community.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.