Fassbinder: Bürgerschreck und Imperator
Allein die Zahlen zu Fassbinders Werk werfen die Frage auf: Wie hat der Mann, der Ende Mai 70 Jahre alt geworden wäre, das alles geschafft? Wenn es stimmt, was ihm nachgesagt wurde, wollte der Regisseur am Ende mehr Filme als Lebensjahre aufweisen. Dies ist ihm zweifellos gelungen. 44 Filme entstanden zwischen 1967 und 1982, seinem Todesjahr. Hinzu kommen 18 Theaterinszenierungen sowie diverse Auftritte als Schauspieler.
Wie nähert man sich diesem so widersprüchlichen Mann, der sich und anderen das Äußerste, bis hin zur Demütigung, abverlangte, um nicht nur einen irren Ausstoß an Produktionen, sondern auch, aus seiner Sicht, die absolute Perfektion zu erreichen, die so gar nichts mit den Sehgewohnheiten des Mainstreams zu tun hatte? Der in auch international erfolgreichen Filmen wie „Die Ehe der Maria Braun“ wie ein Therapeut psychologische Zwänge und Strukturen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft offenlegte und zeitlebens gegen einen nicht nur von ihm befürchteten Rechtsruck in der alten Bundesrepublik andrehte? Der in all diesen schonungslosen Dramen und Tragödien auch sich selbst nicht schonte, indem er Erlebtes und Ersehntes verarbeitete, um womöglich sich selbst zu therapieren? Der stets nach größtmöglicher Anerkennung strebte, und, als sie spätestens mit dem Goldenen Bären für „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ da war, mit ihr nicht umgehen konnte? Der als Scheidungskind Geborgenheit suchte, diese aber nur bedingt finden, geschweige denn geben konnte?
Alles für die Kunst
Mit extremen Künstlercharakteren kennt sich Regisseurin Annekatrin Hendel bestens aus. Für „Vaterlandsverräter“, ein intimes Porträt des umstrittenen Schriftstellers Paul Gratzik, bekam sie 2013 den Grimme-Preis. Im letzten Jahr lief ihr Film über einen weiteren Literaten, Sascha Anderson, in den Kinos. In beiden Filmen ging es um die Ursprünge und Folgen des Verrats. Diesen Aspekt nimmt die 1964 geborene Filmemacherin in „Fassbinder“ wieder auf, wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen. Hier geht es um den, wenn man so will, Verrat am Respekt vor seinen Mitstreitern und vor sich selbst im Namen der Kunst.
Die Schauspielerinnen Hanna Schygulla, Irm Hermann und Margit Carstensen haben Fassbinder für ihre Leinwand-Karriere viel zu verdanken, mussten dafür aber auch Demütigungen und, angesichts von Fassbinders Arbeitswut, Dauerstress ertragen, wie ihren Erzählungen zu entnehmen ist. Wie verklärt und verklärend Hermann, die Fassbinder als gestrenge Inkarnation der Kaltblütigkeit zur Ikone stilisierte, trotz alledem auf die gemeinsamen Anfängen im Münchener „antitheater“ bis zu jenen Jahren, als in der kommunemäßig verbandelten Künstlergruppe alles auf den Regisseur hörte, zurückblickt, verwundert. Auch Schygulla beschreibt die kollektive Hörigkeit, allerdings blickt sie mit einer Art mütterlichem Mitleid auf Fassbinder, die anderen und sich. Von großer Symbolkraft ist eine der Szenen mit Carstensen. Während sie spricht, hechelt ein Mops aus dem Off. Bis ein sanfter Fußtritt für Ruhe sorgt. Da ist er wieder, der rücksichtslose Drang nach Perfektion am Set.
Spuren eines „müden Imperators“
Neben gängigen Interviewszenen an wechselnden Schauplätzen und in einem mit Monitorwänden als zentraler Erinnerungsort ausstaffierten Studio sind bislang unveröffentlichte Fotos aus Fassbinders Jugend sowie zahlreiche seiner Szenen als Schauspieler und Gesprächsschnipsel zu erleben. Um zu unterstreichen, wie viel von Fassbinder in Maria Braun, Veronika Voss und anderen Figuren steckte, greift Hendel zu comicartigen Bildelementen. Auch Schygulla („Unser Leben wurde durch ihn interessanter“), so ist zu beobachten, malt sprichwörtlich an eigenem Bild ihres Impresarios, an dem sie kurz vor seinem Tod Spuren eines „müden Imperators“ erkannt haben will. Immer wieder geht es um dessen Beziehungen zu Männern und Frauen und um die Einflüsse seiner emotionalen Krisen auf die Arbeit. „Ich musste das Leben leben,das ich gelebt habe, damit ich Film so machen kann, wie ich es mache“, sagt er an einer Stelle.
So entsteht unterm Strich ein facettenreiches und lebendiges, aber doch recht wohlwollendes Bild von einem Mann, der für das, was ihn antrieb, regelmäßig Grenzen überschritt. Was hätte wohl Fassbinders Ex-Frau Ingrid Caven, die sich geweigert hatte mitzumachen, zu sagen gehabt? Selbst seine letzte Lebensgefährtin und langjährige Cutterin Juliane Maria Lorenz zeigt wenig Verbitterung, obwohl gerade sie im Endstadium seiner Tabletten- und Alkoholsucht viel mitgemacht hat. Alles nur eine Frage der Zeit? Die Idee zu diesem Film wird Lorenz zugeschrieben. Also jener Frau, die als Chefin einer Stiftung über das Erbe des Regisseurs, Schauspielers und Produzenten wacht und im Archiv auf neues Bildmaterial gestoßen war, das nun gezeigt wird. Manche werfen ihr vor, einen Geniekult zu veranstalten.
„Fassbinder“ ist keine Hommage, doch fehlt ihm ein deutliches Quantum dessen, was Hendel selbst als Antrieb für die künstlerische Kraft ihres Protagonisten bezeichnet: die Reibung, und zwar vor der Kamera. „Vaterlandsverräter“ und „Anderson“ leben von der Interaktion zwischen der Regisseurin und ihren Hauptfiguren. Bei der Beschreibung des Verführers und des Bürgerschrecks musste sich Hendel auf Zeitzeugenberichte verlassen. Das gängige Gesamtbild von Fassbinder kommt dadurch nicht ins Wanken, vielmehr scheinen die einzelnen Farbtupfer umso kräftiger hervor.
Info: Fassbinder (Deutschland 2015), ein Film von Annekatrin Hendel, mit Rainer Werner Fassbinder, Hanna Schygulla, Margit Carstensen, Volker Schlöndorff, Irm Hermann, Juliane Maria Lorenz u.a., 92 Minuten. Ab sofort im Kino