Die Geschichte der Familie des Philosophen Walter Benjamin ist zugleich eine  deutsche Geschichte, wechselvoll und voller Umbrüche. Und es räumt gründlich mit bis heute gepflegten Mythen auf.

Es ist ein Geschichtsbuch mit dem Titel „Die Benjamins – Eine deutsche Familie. Geschrieben hat es Uwe-Karsten Heye. Erschienen ist es im Berliner Aufbau Verlag und es ist ein Buch, das in jede deutsche Schulklasse als Pflichtlektüre gehört. Unter anderem weil es so viele deutsche Welten zeigt, auch weil es hervorragend geschrieben ist und weil es beeindruckend durch die Geschichte Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg führt, mit vor allem im Westen bis heute gepflegten Mythen gründlich aufräumt.

Ein deutsches Jahhundert, durchzogen von einer Blutspur

Es ist also ein politisch spannendes Buch geworden über die Geschwister Walter und Georg und Dora, über die Eltern Emil und Pauline. Über die Zeit zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts über die Jahre vor 1933 und dann über das "Dritte Reich": „Das Geburtsjahr von Walter Benjamin war 1892,“ schreibt der Autor gleich zu Beginn, „das Todesjahr seiner Schwägerin Hilde Benjamin 1989. 

Ein deutsches Jahrhundert, von einer Blutspur durchzogen, die mit kolonialen Eroberungen des Hohenzollernclans in Afrika vor 1914 begann und mit dem Massensterben in beiden Weltkriegen vorerst endete. Für beide Kriege gibt es eine unübersehbare Verantwortung der Deutschen, die sich in den Schicksalen der Geschwister und in ihren Prägungen spiegelt.“

Nur zwei Familienmitglieder überleben das Dritte Reich

Genau das ist es, was dieses Buch so interessant macht: Die Verknüpfung der Familiengeschichte mit den Ereignissen, mit den Akteuren. Nur zwei überleben das Dritte Reich: Hilde Benjamin und ihr Sohn Michael. Ehemann Georg ist von den Nazis umgebracht worden. Walter auf der Flucht ins Exil gestorben. Die Eltern haben das Jahr der Machtergreifung nicht mehr erlebt und damit den Untergang ihrer Welt. 

Die Nationalsozialisten und ihre vielen Millionen Mitläufer richten Deutschland und Europa zwölf Jahre lang hin. 1945 ist das nach einem schrecklichen Krieg, Millionen Gefallenen und Ermordeten vorbei. Der kalte Krieg beginnt: „Im Westen Deutschlands sorgten die in ihren Ämtern verbliebenen Funktionseliten der Nazis für den gleichen antibolschewistischen Gestus, der zuvor 12 Jahre lang eingeübt worden war“, schreibt Heye. Der Nationalsozialismus und die eigene Mitschuld an ihm werden in der Bundesrepublik verdrängt.

Die Nachkriegszeit in Ost- und Westdeutschland

Die DDR wird zum Unrechtsstaat. Hilde Benjamin, zunächst als Vizepräsidentin des Obersten Gerichts und später als Justizministerium,  verkörpert aus westlicher Sicht diesen „Unrechtsstaat“. Jeder dort verurteilte Nationalsozialist wird zum Opfer deklariert. Es sind die stärksten Passagen dieses Buches, die sich mit den 50er und 60er Jahren in der DDR wie in der Bundesrepublik befassen. Die veranschaulichen, wie viele Nazieliten im Westen des Landes überlebten, Karriere machten und eine Stimmung erzeugten, die es dem Land so schwer machten, sich von diesem Zivilisationsbruch zwischen 1933 und 1945 einigermaßen zu erholen.

Hilde Benjamin, die eine sehr umstrittene Frau und Politikerin war, stirbt im Frühjahr 1989. Das Ende der DDR, die Wiedervereinigung erlebt sie nicht. Auch nicht, den sich in beiden zusammen kommenden Teilen Deutschlands ausbreitenden neuen Rechtsradikalismus und auch nicht dessen Unterschätzung und Verharmlosung. Das hat Tradition in Deutschland. 

Auch in diesen Teilen des Buches wird deutlich, wie genau, wie einfühlsam Heye die Vorgänge wie die Menschen beschreibt und so mit dem Leser einen Spaziergang durch einen Teil der deutschen Geschichte unternimmt, der nicht einfach, manchmal sehr bedrückend und immer nachvollziehbar ist.

Uwe-Karsten Heye: "Die Benjamins. Eine deutsche Familie", Aufbau Verlag, Berlin 2014, 361 Seiten, 22,99 Euro, ISBN 978-3-351-03562-4

Autor*in
Jörg Hafkemeyer

ist Journalist, Gast-Dozent für Fernsehdokumentation und -reportagen an der Berliner Journalistenschule und an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin sowie Honorarprofessor im Studiengang Kulturjournalismus an der Berliner Universität der Künste (UdK).

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