Die Spurensuche beginnt mit dem jüdischen Tuchhändler Heimann. Der wurde 1797 in Rawicz, einer kleinen Stadt in Westpolen geboren. Als die Nachnamen eingeführt werden und er sich einen
aussuchen soll, sagt er: "Ich bin ja immer auf der Strasse unterwegs. Nenn mich doch Strassmann." Er war der erste, der mit der jüdisch-orthodoxen Tradition brach. Als großer Verehrer von Johann
Wolfgang von Goethe nannte Heimann seinen Sohn, entgegen der jüdischen Tradition, Wolfgang. Da die Ausbildung an den jüdischen Schulen dieser Zeit sehr begrenzt war, beschloss Heimann, seine Kinder
christliche Schulen besuchen zu lassen.
Für Wolfgang und seinen Bruder Ferdinand begannen die Studienjahre in Berlin, eine aufregende und aktive Zeit, gekennzeichnet von der Revolution von 1848 und den folgenden
gesellschaftspolitischen Reformen. Der Medizinstudent Wolfgang Strassmann stand 1848 in Berlin auf den Barrikaden. Als Arzt leitete er 1875 die Stadtverordnetenversammlung. Gemeinsam mit Rudolf
Virchow arbeitete er an vielen Stadtprojekten zur Verbesserung des Gesundheitswesens in Berlin. So setzte er sich zum Beispiel für die Einführung einer regelmäßigen Müllabfuhr, einer
Fleischkontrolle und für Hygienebestimmungen in Mietshäusern, sowie für die Errichtung neuer Krankenhäuser ein. Die bekannten Berliner Rieselfelder entstanden ebenfalls auf Initiative Strassmanns
und Virchows. Auch Wolfgangs Bruder, Ferdinand Strassmann, wurde ein engagierter Gesundheitspraktiker.
An Hand von Briefen und vielen anderen Zeitdokumenten macht W. Paul Strassmann das Familienleben anschaulich. So berichtet er z.B. auch von Paul Strassmann, der 1904 Sekretär der Berliner
Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie wurde und 1909 in der Schumannstraße eine moderne Frauenklinik errichtete. 15 000 Kindern verhalf er zur Geburt. 1921 wurde er außerordentlicher
Professor an der Berliner Universität und reiste 1927 für lange Zeit in die Vereinigten Staaten. Sein Bruder Fritz wurde zu einem anerkannten Erneuerer der forensischen Medizin. Wie verschieden die
Lebenswege der Familienmitglieder waren, zeigt ein Abschnitt, in dem es um Offizierslaufbahnen in verschiedenen Kriegen geht.
Ein besonders bekanntes Familienmitglied ist Paul Strassmanns Tochter Antonie. 1901 geboren ging sie ihren Lebensweg, sehr intensiv und voller Leidenschaft. Sie lebte Höhen und Tiefen ganz
aus. Sehr früh begann sie ihre Karriere an bekannten Theatern. Mit großem Erfolg spielte sie starke Frauenfiguren der klassischen Dramatik. Ihre zweite Leidenschaft war der Sport. Sie trainierte in
Sportarten wie Schwimmen, Hochsprung und vor allem Radfahren. Antonie machte ihren Flugschein, ging an die Kunstflugschule und wurde eine "Akrobatin der Lüfte". Sie lernte Ernst Udet, Deutschlands
bekanntesten Kunstflieger kennen.
Als die Nationalsozialisten die Macht ergriffen, wurde Paul enteignet. Sein Cousin Ernst ging in den Widerstand. Manchen Familienmitglieder gelang es, sich zu verstecken sich. Für andere
begannen Jahre der Verfolgung, Pogrome und Lager. Antonie wanderte in die Vereinigten Staaten aus. Ein Weg, den auch andere Familienmitglieder freiwillig oder unfreiwillig gingen - einige in der
Hoffnung auf einen Neuanfang.
W. Paul Strassmann erzählt eine spannende, aufregende Familienchronik. Packend schildert er, wie unterschiedlich die Lebenswege einer Familie auf Grund von politischen und gesellschaftlichen
Bedingungen sein können. Die im Anhang des Buches vorliegenden Familienstammbäume geben einen Überblick über die weit verzweigten Linien und Mitglieder der Familie Strassmann.
Dieter Köppe
Wolfgang Paul Strassmann:Die Strassmanns. Schicksale einer deutsch-jüdischen Familie über zwei Jahrhunderte, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2006, 24,90 Euro, ISBN 3-593-38034-X
0
Kommentare
Noch keine Kommentare