Eine 1400-jährige Geschichte
Grundlagen des historischen Verständnisses legt Tilman Nagel in seinem Aufsatz zur "1400jährigen Geschichte des Islam". In deterministischer Manier wird Allah im Koran als
allmächtige Schöpfer und allwissender Lenker beschrieben. Das hat weit reichende Konsequenzen. Nagel erklärt gut, dass es zum einen zur letztendlichen Ohnmacht der Muslime bezüglich ihrer
weltlichen Geschicke führt, dass dies Furcht als einzig mögli-che Haltung vor dem jüngsten Gericht erzeugt, weil es keine diesseitigen Möglichkeit der Beeinflussung gibt, und dass eine derartige
Geisteshaltung nur sehr schwer mit den Realitäten der modernen westlichen Welt zu vereinen ist. Insofern kann dies als ein Grund für die diametrale Opposition, z. B. von den Islamisten, gegen den
Westen gese-hen werden. In der Folge werden die verschiedenen religiösen Strömungen des Islam, in der Hauptsache Schiiten und Sunniten, ebenso erklärt wie die historische Verquickung von Politik
und Religion. Als kurzer Überblick ist diese Einführung in den Islam des-halb durchaus gelungen.
Eine Minderheit von 3,2 Millionen
Johannes Kandel beschäftigt sich mit den 'Muslime in Deutschland zwischen Islamis-mus und Integration'. Mit 3,2 Millionen sind die Muslime bei weitem die größte Min-derheit. Die Forderung
ihrer Integration ist nicht nur eine der kontroversesten Debatten für die deutsche Mehrheit, sondern findet sich auch in der heftigen inner-islamischen Debatte zu möglichen nationalen Ausprägungen
des muslimischen Glaubens. Dabei ist die Frage was Integration bedeutet tatsächlich wichtig, wie der Autor betont, auch wenn man sicherlich vorsichtig sein muss mit sterilen Definitionen. Bei dem
selbstfin-derische Prozess den die Muslime in der Fremde (Deutschland) durchleben, hält Kan-del die Wiederbelebung "(…) des türkischen Alevismus politisch für besonders bedeut-sam (…), da wir es
hier mit einer Religionsgemeinschaft zu tun haben, die Säkularität, Menschenrechte und Demokratie ausdrücklich anerkennt." Die Kritik des Autors an etablierten islamischen Organisationen ist dort
am stärksten, wo sie sich nicht gegen den Einfluss von Islamisten und den Aufbau von Parallelgesellschaften wehren , wo sie keinen Reformenislam fördern, wo sie nicht als Integrationslotsen ihren
Gläubigen die-nen, sondern als Identitätswächter im konservativen Sinne. Besonders kritisch ist hier-bei die Anerkennung der rechtsstaatlichen Ordnung der BRD, wobei der Autor lediglich eine
"bedingte Rechtstreue" von den muslimischen Organisationen vertreten sieht, nämlich da wo sie nicht dem islamischen Recht, der Scharia, widerspricht. Für die Muslime bleibt die Forderung "(…) im
Interesse gegenseitigen Respekts über die Sozi-alverträglichkeit der Institutionalisierung religiös-kultureller Praktiken zu reflektieren und den Dialog zu suchen." Die Strategie des deutschen
Staates sollte sich nach Mei-nung von Kandel auf Gefahrenabwehr, Dialog im Sinne einer kritischen Streitkultur und auf Integrationspolitik stützen. Die Förderung eines europäisch geprägten
demokrati-schen Islam wäre hierbei das Hauptziel.
Die Gleichheit von Frau und Mann
Der Beitrag von Hamideh Mohagheghi zur 'Rolle der Frauen im Islam' vertritt fast fe-ministisch die Thesen von der Gleichheit von Mann und Frauen im Qur'an, die von teilweise zweifelhaften
Überlieferungen des Lebens des Propheten (hadithe) untergra-ben wird. Die Argumentation ist mit Hilfe von vielen Beispielen sehr anschaulich. Lei-der greift die Schlussfolgerung etwas zu kurz,
indem die Autorin auf selbstständige Lö-sungen muslimischen Frauen setzt, und Hilfe von außen als Bevormundung und Ab-hängigkeit ablehnt.
Hans-Peter Raddatzs 'Allahs Gesetz im Westen' ist der am meisten problematische Beitrag in diesem Buch. Eine Definition die den Islam wegen Konformitätsdruck und Toleranzschwäche gegenüber
Außenseitern und Abweichlern als Sekte umreißt, was nach Meinung des Autors nur wegen seiner Größe nicht gemacht wird, könnte man vielleicht mit viel gutem Willen noch akzeptieren. Schwieriger wird
es beim unter-schwelligen Vergleich der Religion mit totalitären Regimes, z. B. wenn der gläubige Muslim der zur Einhaltung des Korans anhält, implizit mit dem Blockwart verglichen wird; oder wenn
fundamentales Misstrauen aus der Zeit des kalten Krieges wieder auf-gewärmt wird: " Auch wenn es bei uns viele nicht wahrhaben wollen, so bestätigt sich die muslimische Existenz weniger in der
Anpassung an den Unglauben, sondern im Ge-genteil, in seiner Bekämpfung und Ausbeutung, wobei die Täuschung des Andersgläu-bigen integraler Bestandteil der Ideologie bildet." Qualitative
Unterscheidungen bleiben leider auf der Strecken und der Autor verfällt in unzulässigen Generalisierungen. Gänz-lich unzulässig und falsch sind Äußerungen die "(…) illegitim Strukturen der EU in
Kommission, Ministerrat etc. (…)" als Quellen für eine dem Autor ungenehme Zu-wanderungspolitik benennen. Diese Endphase des Beitrags ist nur schwer erträglich, weil man sie nur als ideologisch
verblendet einzustufen kann. Als abschließendes Bei-spiel hierfür mag die Gleichsetzung von Islam und Islamismus dienen, die der Autor damit begründet, dass sich beide "(…) auf die gleiche Wurzeln
beziehen." So einfach ist es eben nicht, denn im Gegenbeispiel würde Raddatz Sozialismus und Kommunis-mus bzw. SPD und KPD trotz gleicher Wurzeln wohl nicht gleichsetzen.
Euro-Islam: Tor der Urteilsfindung
Mit Rainer Hermanns Aufsatz 'Die Türkei - ein Teil der Europäischen Union?' kommt dieser Band aus dem Tal der Schatten zurück ins Licht. Und fast wie als Ant-wort auf Raddatz, ruft Hermann
den Leser auf, nicht den Verfechtern von Huntingtons These vom Kampf der Kulturen zu glauben. Die wurde zwar als sich selbst erfüllende Prophezeiung ausgedacht und hat sich teilweise auch schon
erfüllt, Sie klammert aber jegliche Vernunft aus und erfüllt keinesfalls das, was Politik leisten muss, nämlich Probleme lösen. Im Gegensatz dazu prägt Hermann den Begriff des Euro-Islam,
unpo-litisch, liberal und aufklärerisch. Vor dem Hintergrund der Entwicklung der Türkei als laizistische Republik - Gewährung der Glaubensfreiheit - und in dem Wissen, dass die Türkei Europa als
politisches Leitmotiv betrachtet, sieht der Autor in der Türkei die Grundlagen und das Entwicklungspotenzial für einen solchen Euro-Islam gegeben. Die progressive Auslegungsschule des Koran der
Universität von Ankara öffnete hierbei "(…) das 'Tor der eigenen Urteilsfindung' (…)" das seit dem islamischen Mittelalter verschlossen war, was die einst kreative islamischen Theologie zur reinen
Überlieferung und Konservierung von Traditionen verdammte. In der Schule von Ankara sieht Her-mann deshalb folgerichtig Hoffnung für die Gründung eines Euro-Islam. Hermann be-endet seinen Beitrag
schlüssig in der fundamentalen Ablehnung des Kampfes der Kul-turen, nicht einmal so sehr, weil hier eine falsche Ideologie aufgebaut wird, sondern weil dieser Kampf kein Zukunftskonzept ist. Die
europäische Integration hingegen ist eines: "In allen Jahrzehnten hat sich die europäische Integration stets neu erfunden. Gleich blieb der gemeinsame Nenner: die 'Pax Europaea'. Sie steht für
Frieden, für Wohlstand, für Demokratie. (…) Aufgabe der Gründergeneration war, Europa aus dem Abgrund der Kriege heraus zu führen, um nach innen zu konsolidieren. Aufgabe meiner Genera-tion ist,
einen Dialog und eine Zusammenarbeit mit den islamischen Welt aufzubauen um den erreichten Wohlstand und Frieden zu sichern." Besser kann man es nicht sagen.
Thomas Hörber
Diether Döring, Eduard J.M. Kroker (Hrsg.): Europa und der Islam, Königstei-ner Forum 2004, Societätsverlag, Frankfurt a.M., 2006, 271 Seiten, 14,80 Euro, ISBN 3-7973-0909-0
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