Kultur

„Europa Passage“: Wie Roma in Hamburg auf der Straße leben

Der Dokumentarfilm „Europa Passage“ zeigt das Leben von Roma auf der Straße. Der Regisseur begleitet die Gruppe fünf Jahre lang in Hamburg und Rumänien. Der Film handelt aber auch von einer Erfolgsgeschichte.
von ohne Autor · 16. September 2022
Für ein paar Euro am Tag gehen Maria und Tirloi bis an ihre Grenzen.
Für ein paar Euro am Tag gehen Maria und Tirloi bis an ihre Grenzen.

Menschen, die auf der Straße leben und um Geld betteln, gehören so selbstverständlich zum Großstadtbild, dass sie kaum noch auffallen. Und doch: Viele Passant*innen werden sich sicher schon mal gefragt haben, was diese Menschen eigentlich machen, wenn sie nicht gerade in irgendeiner Ecke kauern. Und welche Lebensgeschichte sie mitbringen.

Normalität unter extremsten Bedingungen

Antworten auf derlei Fragen gibt der Dokumentarfilm „Europa Passage“. Er bietet Einblicke in die verborgene Welt von Menschen am untersten Rand der Gesellschaft Fünf Jahre lang begleitete Regisseur Andrei Schwartz eine Gruppe Roma in Hamburg, wo sie betteln gehen, und in ihrem Heimatdorf in Rumänien. Dort haben sie ihre Familien zurückgelassen. Und auch ein anderes, ebenfalls ärmliches Leben.

Der Film hat es nicht darauf abgesehen, Armut auszustellen. Er erzählt davon, wie Menschen unter extremsten Bedingungen um Normalität bemüht sind. Auch wenn diese Vorstellung im Zeichen von seelischer Erniedrigung und physischer Qual, die mit diesem Leben einhergehen, absurd erscheint. Zumindest von außen betrachtet.

Ganz nah dran

Während die Kamera den Protagonist*innen durch ihren Hamburger Alltag folgt, sehen wir aus nächster Nähe, was es bedeutet, ein Dasein am Abgrund zu fristen. Wenn die Männer und Frauen sich zu ihrem Schlaflager unter Brücken aufmachen oder auf der Straße angefeindet werden, schaudert es einen. Weniger wegen der erbärmlichen Umstände, sondern weil Menschen wegen der sozialen Ausgrenzung in Rumänien und des fragwürdigen Agierens der Hamburger Behörden zu so einem Leben geradezu genötigt werden.

Und doch gelingt es immer, den Widerspruch zwischen den Bildern von Armut und dem Streben nach Normalität aufzulösen. Und zwar, indem die Menschen, um die es geht, ausführlich aus ihrem Leben erzählen. Indem sie ihr Elend einordnen, erweitern sie den Erkenntnishorizont.

Dann wird deutlich, dass sie in Hamburg nur das tun, was sie immer getan haben: sich irgendwie über Wasser halten aus eigener Kraft ein bescheidenes Auskommen sichern. So wie auch einst im real existierenden Sozialismus, als es für sie noch Jobs in Fabriken gab. Heute schlagen sich die Bewohner*innen des Heimatdorfes am Rande der Karpaten mit Mühe und Not mit Arbeitsbeschaffungsmaßnamen oder dem Verkauf von handgemachten Besen durch.

Der Preis des Erfolgs

„Früher war ich es gewohnt zu arbeiten. Heute bettele ich“, sagt einer der Roma in Hamburg. Er fühlt sich wie ein „Versager“. „Europa Passage“ handelt aber auch von einer Erfolgsgeschichte. Dem Großelternpaar Maria und Tirloi gelingt es im Lauf der Jahre, sich zumindest teilweise ein Leben jenseits der Straße aufzubauen. Das bleibt allerdings nicht ohne Folgen. Beide – und auch ihre Verwandten im Dorf – zahlen einen hohen Preis für das, was sie in der Fremde erreicht haben. Und dennoch liegt darin auch Hoffnung.

Der doppeldeutige Titel des Films bezieht sich auf einen zentralen Schauplatz der Handlung, nämlich eine Shopping Mall in der hippen Hamburger City. Und zugleich auf die Wanderung zwischen den Polen der Europäischen Union: nicht nur im geografischen Sinne, sondern vor allem bezogen auf das Wohlstandsgefälle. Die daraus folgende Zerrissenheit der Wander*innen spiegelt sich vor allem in Maria wider. Für sie bedeutet Normalität eben auch, das alte und das neue Leben unter einen Hut zu bekommen. Auch das ist ein Langzeitprojekt.

„Europa Passage“ besticht vor allem durch die ausgesprochen große Nähe zwischen den Protagonist*innen und dem Regisseur. Dass Andrei Schwartz Wurzeln in Rumänien hat, hat offensichtlich nicht nur auf der sprachlichen Ebene einige Türen geöffnet.

Nüchtern und intensiv

Hinzu kommt die eindringliche Bildsprache. Die Kamera fängt die Menschen häufig in unbewegten Einstellungen ein, geht mit ihnen verschlungene Wege und spart von ihrer täglichen Routine kaum etwas aus. Daraus resultieren gleichsam intensive und nüchtern-präzise Bilder frei von jeglicher Dramatisierung. Mitunter nimmt dieser Realismus geradezu gemäldeartige Züge an: Etliche Bilder packen einen sofort und wirken lange nach.

„Europa Passage“ ist alles andere als Betroffenheitskino und auch die politische Schlagseite ist sehr reduziert. Sehr wohl blickt der Film aber in dunkle Ecken der Wohlstandsgesellschaft, die selten beleuchtet werden. Dass in den Dreharbeiten vor allem für die Zugewanderten aus Rumänien, die alles andere im Sinn hatten als aufzufallen, eine Gratwanderung lag, macht sich an mehreren Stellen bemerkbar und wird von den Gefilmten auch artikuliert. Was diese in radikaler Weise pragmatischen und schwarzhumorigen Menschen zu sagen und erlebt haben, verdient ein breites Publikum.

Info: „Europa Passage“ (Deutschand 2022), ein Film von Andrei Schwartz, Kamera: Susanne Schüle, mit Mariana Luca („Maria“),Ion Luca („Tirloi“), Ioana Lavinia Brumaru und vielen anderen, 90 Minuten, OmU.

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