PRO »Es ist höchste Zeit für einen gemeinsamen Werteunterricht.« Constanze Kraft
Wenn dein Kind dich morgen fragt - mit diesen Worten nimmt die Bibel Erwachsene in die Verantwortung für das, was sie Kindern weitergeben. Wenn mich mein Kind in etwa 25 Jahren nach meiner
Entscheidung für das Fach Ethik fragen würde - was würde ich ihm antworten?
Es war höchst verantwortungsvoll und höchste Zeit, einen gemeinsamen Werteunterricht einzuführen, würde ich sagen. Wir waren an einem Punkt, wo ein gesellschaftliches Gewissen längst nicht
mehr spürbar war, wo sich Religionsgemeinschaften gegenseitig verurteilten, anstatt sich zu verständigen, wo sich Parallelgesellschaften gebildet hatten. Wir spürten, dass viele Kulturen und
Traditionen unsere Gegenwart prägten, ohne dass wir sie wirklich verstehen und wertschätzen konnten. Wir nahmen wahr, wie sehr die Gesellschaft auseinanderdriftete. Das Votum der Kirchen für
einen separaten Pflichtunterricht an der öffentlichen Schule - so würde ich meinem Kind sagen - konnte ich nicht nachvollziehen. Es war nicht die Antwort, die wir brauchten. Es war wie eine
Antwort, die die Kirche sich selbst gab, wie eine Machtprobe, die sie vor sich selbst bestehen wollte, wie ein Kulturkampf, den sie um ihrer eigenen Überlegenheit Willen führte. Mit sehr viel
fremdem Geld und mit Losungen, die an den Kalten Krieg erinnerten, warb sie für ihren separaten Religionsunterricht.
Ging es denn wirklich um "Freiheit" von einem "Zwang"? Stand es tatsächlich zur Debatte, auf Religionsunterricht zu "verzichten"? War die Bevölkerung vor die Wahl zwischen
"Weltanschauungen" gestellt worden? Sind die Werte, die das Christentum vermittelt - so würde ich mein Kind fragen - nicht auch zutiefst menschheitliche, die Sehnsucht aller Menschen verkörpernde
Werte? Geht es nicht allen um ein faires und gutes Zusammenleben, zu dem die verschiedenen Religionen und Kulturen etwas je Eigenes und Wertvolles beizutragen haben? Was kann es Sinnvolleres
geben, als dass sich Jugendliche regelmäßig in ihrem Lebensalltag in der Schule darüber verständigen? Und hat nicht die Kirche aufgrund ihrer historisch gewachsenen gesellschaftlichen Präsenz wie
keine andere Institution in diesem Land viel Raum, ihre unverwechselbare Botschaft an viele Menschen zu vermitteln?
Ein Fach an einer öffentlichen Schule, in dem alle miteinander alles übereinander lernen, in dem alle Jugendlichen gleichermaßen über Unbekanntes aufgeklärt werden, in dem sie
VertreterInnen der Religionen und Kulturen kennen lernen, in dem ihre Fähigkeit zur sachlichen Auseinandersetzung entwickelt und ihre Wahlkompetenz auf einem weitgehend neutralen schulischen
Boden geschult wird - das ist zukunftsweisend. So würde ich meinem Kind antworten.
CONTRA
»Ethik- oder Religionsunterricht als alternative Pflichtfächer« Marie-Theres Kastner
Leistungsdruck, vielfältige Lebensformen, soziale Benachteiligung, Vernachlässigung und die immer wieder festzustellende Unsicherheiten der Eltern verpflichten Schulen dazu, sich mehr denn je
um die Werteerziehung und Persönlichkeitsentfaltung aller Schülerinnen und Schüler zu kümmern. Sie werden dadurch befähigt, sich später an der Bewältigung von Problemen in Familie, Gesellschaft
und Politik zu beteiligen.
Konfessioneller Religionsunterricht ist ein unerlässlicher Beitrag zur Werteerziehung und zur Entfaltung der religiösen Dimension im Menschen und damit zur Identitätsfindung. Ohne
authentisches Sprechen und Vorleben und ohne erfahrungsbezogene Formen der Einübung ist dies nicht möglich. In der multikulturellen Gesellschaft müssen Schülerinnen und Schüler auch lernen,
fremden Erfahrungswelten, Kulturen, Religionen und Weltanschauungen mit Respekt, Empathie und Kooperationsfähigkeit zu begegnen. Hierzu ist es wichtig, nicht übereinander, sondern miteinander zu
reden. Die Einführung von Ethik als Pflichtfach ist daher ein richtiger Schritt.
Allerdings kann man nur mit einer fundierten religiösen bzw. weltanschaulichen Haltung in den Dialog mit anderen gehen. Religionsunterricht und Ethikunterricht sind daher gleich wichtig.
Mit der Einführung eines Pflichtfaches Ethik ab Klasse 7 und der Möglichkeit des freiwilligen zusätzlichen Religionsunterrichts wird dieser jedoch enorm geschwächt. Denn angesichts voller
Stundenpläne wird er dann zu unattraktiven Zeiten stattfinden. Auch wegen des bereits hinzugekommenenEthikunterrichts und damit verbundenen inhaltlichen Überschneidungen hat der
Religionsunterricht keine faire Chance, gewählt zu werden. Ausgerechnet in der Jugend, einer Zeit der Selbstfindung, darf dies nicht geschehen.
Das Grundgesetz garantiert Religion als ordentliches Lehrfach. Aus formalen Gründen ist Berlin davon ausgeschlossen. Hier ist Religion seit jeher freiwilliges Lehrfach. Mit der neuen
Regelung gerät das Fach nun noch mehr ins Abseits. Stattdessen sollte Berlin nach dem ersten jetzt die nächsten notwendigen Schritte tun: Wahl zwischen Ethik- oder Religionsunterricht als
alternative Pflichtfächer und Gewährleistung eines intensiven persönlichen Austauschs zwischen den Unterrichtsgruppen.
Constanze Kraft ist Pfarrerin in Berlin und Mitglied der Initiative "Christen pro Ethik"
Marie-Theres Kastner ist Bundesvorsitzende der Katholischen Elternschaft Deutschlands (KED)
Quelle:
vorwärts 3/2009