An der nächsten Haltestelle wartet auf Karen ein anderes Leben. Doch die Demütigungen all der Jahre machen der jungen Frau den Neuanfang schwerer als gedacht: „Karen Cries On The Bus“ ist ein intensiver Trip ins Innere der kolumbianischen Gesellschaft jenseits von Drogenkartellen und Todesschwadronen.
Mit seinem ersten abendfüllenden Spielfilm ist Regisseur Gabriel Rojas Vera ein Kunststück gelungen: Weder bedient er die gängigen Klischees über sein Land noch wirkt die Geschichte vom Aufbruch einer jungen Frau abgehoben von der sozialen Realität. Überhaupt, so Vera, mache Kolumbiens Kino einen Umbruch durch: Standen ehedem die sozialen und politischen Abgründe im nach Brasilien bevölkerungsreichsten Staat Südamerikas im Mittelpunkt, so wendet sich die Perspektive zunehmend der Frage zu, wie der Einzelne diese Realität erfährt und verarbeitet. Und darin steckt immer noch reichlich Dramatik: Wie gehabt lassen Paramilitärs und Guerillas Menschen verschwinden und umbringen. Rund jeder zweite Kolumbianer lebt unterhalb der Armutsgrenze. Andererseits erlebt die Präsidialrepublik seit Jahren einen anhaltenden Wirtschaftsboom: Mit rund fünf Prozent Wirtschaftswachstum sollen in diesem Jahr die Ökonomien der USA und der Eurozone überflügelt werden, besagen Prognosen. Keine Frage: Kolumbien ist in Bewegung. Aber gilt das auch für die Geschlechterverhältnisse?
Alles auf Anfang
Karens neuer Lebensabschnitt beginnt mit einer Busreise. Nach zehn Jahren Ehe wagt sie einen Neuanfang in irgendeiner Großstadt. Der Weg ist das Ziel und zugleich ihre einzige Gewissheit. Bloß keine faulen Kompromisse mehr. Ihr Zimmer in einer verranzten Absteige zahlt sie mit ihren letzten Pesos. Demütigend und von wenig Erfolg gekrönt sind ihre ersten Gehversuche in der Arbeitswelt.
Doch Karen klaut oder bettelt lieber, als sich von ihrer Mutter durchfüttern oder ihrem Ex wieder einwickeln zu lassen. Ihr von Szene zu Szene leerer werdende Blick, der den Verflossenen trifft, sagt alles. In ihrer Mitbewohnerin Patricia entdeckt sie eine Leidensgenossin, die ebenso wie sie auf ihre Selbstständigkeit pocht, jedoch, wie es scheint, konträr handelt. Weil sie als Friseurin im Wirtschaftswunderland kaum über die Runden kommt, aber auf nichts verzichten will, lässt sie sich von wechselnden Männerbekanntschaften aushalten. Bis zu einem entscheidenden Moment bleibt sie stets Herrin der Lage – und zieht Karen mit.
Während einer gemeinsamen Sause lernt diese einen Mann kennen, den sie in dieser fadenscheinigen Szenerie wohl kaum vermutet hätte.Und der in ihr etwas zum Leben erweckt, was lange schlummerte: Eduardo ist für Karen wie ein Sechser im Lotto. Wie lange mag es her sein, dass ein Mann sie so respektvoll behandelt hat wie dieser sensible Dramatiker, der sogar zuhören kann? Durch ihn lebt ihre Leidenschaft fürs Theater, und damit die Lust an der Verwandlung, wieder auf. Und auch in Arbeitsdingen tut sich endlich was. Neuer Mann, neuer Job: Karen scheint am Ziel.
Das Trauma kehrt zurück
Doch stattdessen steht ihrer Willenskraft erst noch die wahre Bewährungsprobe bevor. Eduardo drängt es zu neuen kreativen Ufern in Argentinien. Mit ihr als Begleitung. In dieser hochsensiblen Sache ist jedes Wort Dynamit. Ergo öffnet eine beiläufige Bemerkung Eduardos ihr die Augen: Ist er wirklich so anders als jene Sorte Mann, die sie hinter sich gelassen glaubte?
Karen hat nur eine Wahl, will sie sich treu bleiben.
Der Weg hin zu diesem Wendepunkt ist alles andere als vorhersehbar. Dieses sich spät lösende Gesicht, dieser tapsige Gang zeigen, wie sich Karens so verzweifelte wie entschlossene Suche nach sich selbst auch im Äußeren widerspiegeln und welche Kraft diese Art der Selbstfindung kostet: Hauptdarstellerin Angela Carrizosa Aparicio gelingt ein grandioser Spagat zwischen kindlichem Staunen und zerknirschter Desillusionierung.
Veras unaufgeregter Realismus verlässt sich ganz darauf, diese Entwicklung völlig pathosfrei, aber in tiefer Emotionalität einzufangen. Karens Sichtweise beherrscht alles, es gibt keine Szene ohne sie. Ihr Horizont wird auch unserer, sodass man sich irgendwann mit ihr fragt: Was tun? Nicht, dass der Film aufdringlich um Sympathien für die Protagonistin buhlt: Zu viel von Karens Charakter bleibt im Dunkeln. Immer wieder zwingen andere sie dazu, sich zu hinterfragen. Doch am Ende kommt man nicht umhin zu glauben, in ihrer Lage genauso zu handeln. Die Reduktion stiftet Empathie für ein alltägliches Schicksal, ohne einseitig zu sein. Um von einem universellen Thema zu erzählen, pflegt dieser Film die kleine Form in Reinkultur. Das verleiht ihm Größe. Dieses Kolumbien ist überall.
Info: „Karen Cries On The Bus“ (Karen Illora en un bus, Kolumbien 2011), ein Film von Gabriel Rojas Vera, mit Angela Carrizosa Aparicio, Maria Angelica Sanchez, Juan Manuel Diaz, 98 Minuten.
Ab sofort im Kino