Kultur

Erzwungene Wege mit Hintergedanken

von Die Redaktion · 29. August 2006
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Zentral sei der "europäische Ansatz" der Ausstellung, betont Steinbach. Dabei soll es "keine Gewichtung der Leiden" geben, die Ausstellung folge vielmehr "dem Postulat der unteilbaren Humanitas", ist eingangs zu lesen. Im Hauptraum der Ausstellung erstreckt sich eine schwarz-weiße Europakarte über Fußboden und Wände. In Augenhöhe ist ein durchgängiger Lichtfries angebracht, dicht beschriftet. Anhand von neun ausgewählten Beispielen, in chronologischer Reihenfolge wird das "Jahrhundert der Vertreibungen", in dem 80 bis 100 Millionen Menschen ihre Heimat verloren, thematisiert.

Viel Text, einige Fotos und wenige Exponate spannen einen Bogen der Vertreibung vom Völkermord an den Armeniern 1915/16 über die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zu Krieg und Vertreibung im ehemaligen Jugoslawien. Die Idee des ethnisch homogenen Nationalstaates als Hauptursache für Vertreibung von Minderheiten und ethnischen Gruppen soll deutlich werden. Auf mehreren weißen Kuben im Raum sind Videointerviews mit Vertriebenen abrufbar. In den Nebenräumen wird das individuelle Flüchtlingselend präsent. Gestapelte weiße Kisten sind zu thematischen Clustern zusammengefügt. Gerettete Habseligkeiten zeigen die ganz persönliche Dimension von Flucht und Vertreibung.

Es ist viel Interessantes zu erfahren in der Ausstellung. Allerdings ist die Schau, so sehr man sich um einen europäischen Blickwinkel bemüht, nicht immer unproblematisch. Die Vertreibung und Entrechtung der Juden Europas wird als "Baustein des Holocaust" behandelt. "Die Darstellung der Ermordung der europäischen Juden ist nicht Thema dieser Ausstellung. Die Ausstellung zeigt vielmehr den schrittweisen Prozess der Vertreibung bis zum Holocaust", ist zu lesen. Die Schoah wird damit nicht als Gesamtprozess dargestellt. Die Gründung des Staates Israel spielt keine Rolle in der Ausstellung.

Man hat sich mit der Konzeption der Ausstellung große Mühe gegeben, hat nicht versucht aufzurechnen. Das kann man anerkennen, genau wie die Tatsache, dass keine großen Fehler unterlaufen sind. Das grundsätzliche Problem der Ausstellung ist, dass sie lediglich eine Art Gründungsausstellung für ein "Zentrum gegen Vertreibungen" sein soll. In Berlin will der Bund der Vertriebenen unter Erika Steinbach das Zentrum wissen. Bezweckt wird damit zweierlei: "Das Schicksal der deutschen Vertriebenen dokumentieren und den Blick auf die Vorgänge im Europa des 20. Jahrhunderts insgesamt richten.", erläutert Steinbach.

"Unsere Kritiker haben einfach ignoriert, dass wir von Anfang an eine europäische Perspektive wollten.", erklärt Steinbach. Wenn der europäische Ansatz ehrlich gemeint ist, wäre eine Vernetzung forschender Organisationen aus ganz Europa nicht viel sinnvoller als eine Institution, die von Beginn an höchst umstritten ist?

Dass die zahlreichen Texte in der Ausstellung "Erzwungene Wege" nur in deutscher Sprache zu lesen sind, könnte aber schon ein Hinweis darauf sein, wie europäisch das angestrebte "Zentrum gegen Vertreibungen" tatsächlich wäre.

Birgit Güll

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