Er war einer der profiliertesten Film-, Theater- und Literaturkritiker der Weimarer Republik. Endlich liegt wieder ein Sammelband mit Hans Sahls Werken vor. In „Der Mann, der sich selbst besuchte“ sind sämtliche Erzählungen und ein großer Teil seiner Glossen versammelt, darunter zahlreiche bisher unveröffentlichte Texte.
Eines der beeindruckendsten Prosastücke des Sammelbandes trägt den Titel „Herr Pilz lässt sich rasieren“. Sahl erzählt von einem Mann, der zu den Honoratioren seiner Stadt gehört. Hoch angesehen und mit einem „lieblichen, zart gelockten Vollbart, den er fünfzehn Jahre lang vor dem Gesicht getragen hatte“. Dann fasst er den Entschluss, „irgendetwas in seinem Leben zu verändern“. So sitzt er in einem der „schweren Operationsstühle, die den Salon der Firma Aust & Co. weit und breit berühmt gemacht hatten“.
Opposition regt sich, Vorwürfe werden laut, er spiele mit seiner Rasur dem „Geist der Veränderung, der Umwälzung, kurzum der Revolution“ in die Hände. Nach der Entfernung seines roten Rauschebarts kennt er sich selbst nicht wieder, wird vom Pöbel verfolgt. Der holt den Flüchtenden ein und versetzt ihm – letzter Satz der 1928 erstmals erschienenen Erzählung – einen Faustschlag mitten ins Gesicht.
Gezeigt wird Weltgeschichte
Manche Texte drehen am Ende ins Skurrile. Viele Prosastücke kreisen um die Ereignisse des „Scharnierjahres“ 1933. „Ausgeleuchtet wird nur der Raum des Privaten, doch gezeigt wird die Weltgeschichte“, schrieb Marcel Reich-Ranicki über Sahls Arbeiten. Die Darstellung sei „ganz distanziert, ein wenig melancholisch, ohne eine Spur von Hass oder Zorn“, es dominierten „Schmerz und Trauer und grenzenlose Verwunderung“.
In der mehrteiligen Glosse „Klassiker der Leihbibliothek“ knöpfte Sahl sich Mitte der 1920er Jahre Bestsellerautoren wie Rudolf Herzog, Fedor von Zobeltitz, Rudolf Stratz, Richard Skowronnek und Ludwig Wolff vor. Heute sind sie fast vergessen, doch in den angeblich so goldenen Zwanzigern überhöhten sie die Dolchstoßlegende dichterisch und schrieben mit Inbrunst die Nazityrannei herbei.
Auf Kriegsfuß mit McCarthy
Sahl wird 1902 in ein großbürgerliches jüdisches Elternhaus hineingeboren. 1933 muss er vor den Nationalsozialisten fliehen – über Prag und Paris rettet er sich in die USA. Neben seiner eigenen schriftstellerischen Arbeit tritt Sahl als Übersetzer von amerikanischen Autoren wie Arthur Miller, Thornton Wilder und Tennessee Williams hervor. In New York stand er in der McCarthy-Ära zeitweise der Gruppe um die Kommunistin Ruth Fischer nahe, was ihm die Aufmerksamkeit der amerikanischen Geheimdienste einbrachte.
Zeit seines Lebens eckte er an, kannte Bertolt Brecht, Johannes R. Becher und Egon Erwin Kisch, mit denen er sich überwarf und die er der Blindheit gegenüber Stalins Verbrechen zieh. Sahl saß oft zwischen allen Stühlen und bewältigte sein Leben, indem er Romane und Gedichte verfasste. 1953 kehrte Sahl vorübergehend nach Deutschland zurück, arbeitete als Kulturkorrespondent für die „Neue Zürcher Zeitung“, „Die Welt“ und die „Süddeutsche Zeitung“. 1989 remigrierte Sahl zurück nach Deutschland. 1960 erhielt er das Verdienstkreuz 1. Klasse und 1982 das Große Verdienstkreuz. 1993 ist er in Tübingen gestorben.
Hans Sahl: „Der Mann, der sich selbst besuchte. Die Erzählungen und Glossen“, Luchterhand Verlag, München 2012, 415 Seiten, 22,99 Euro, ISBN 978-3-630-87293-3
Matthias Dohmen hat Germanistik, Geschichte, Politologie und Philosophie studiert, arbeitet als freier Journalist und ist 2015 mit einer Arbeit über die Rolle der Historiker West und Ost im "deutschen Geschichtskrieg" promoviert worden.