Kultur

Entgleiste Erinnerung

von ohne Autor · 13. Dezember 2013

Dramatische Wendung in einem Leben am Zug: In der Spätphase des Sozialismus stellt sich der pedantische Fahrdienstleiter Alois Nebel den Dämonen der Zeitgeschichte. Die gleichnamige Comic-Verfilmung ist eine lakonisches Plädoyer gegen das Vergessen.

Wie unterschiedlich die Gedenkkulturen in der Mitte Europas doch – zwangsläufig – sind: Zum Beispiel die Erinnerung an die Geschichte der Deutschen in der Tschechischen Republik. Galt jedwede Beschäftigung damit in Deutschland über Jahrzehnte als revanchistisch, wurde das Thema in dem ehemaligen Ostblockstaat ausgeblendet. Vielen Dörfern und Städten wurde damit allerdings ein Teil ihrer Identität genommen. 

Trailer

Um die Jahrtausendwende waren die tschechischen Comic-Autoren Jaromir Svejdik und Jaroslav Rudis der weißen Flecken überdrüssig und veröffentlichten eine Graphic-Novel-Trilogie über einen schrulligen, aber sympathischen Außenseiter in einem jener entlegenen Schicksalsorte des vergangenen Jahrhunderts, die symptomatisch für Krieg, Vertreibung und erneute Besatzung geworden waren. Die nach der Hauptfigur betitelte Reihe „Alois Nebel“, Anfang dieses Jahres auch hierzulande als Gesamtausgabe erschienen, wurde in viele Sprachen übersetzt.

Debatte angestoßen


Auch die 2011 begonnene, gleichnamige Verfilmung wurde ein internationaler Erfolg: 2012 wurde die Arbeit von Regisseur Thomas Lunak mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet und für den Oscar nominiert. Was eigentlich viel wichtiger ist: „Alois Nebel“ setzte in unserem Nachbarland eine breite Diskussion mit dem Umgang der jüngeren Vergangenheit in Gang. All das wirft die Frage auf, warum sich in der Bundesrepublik erst jetzt ein Verleih für diese inhaltlich wie ästhetisch überragende Produktion gefunden hat.

Zunächst deutet wenig darauf hin, dass ausgerechnet Alois Nebels Alltag besonders erzählenswert wäre. Der alleinstehende Fahrgastdienstleister tut Ende der 80er-Jahre Dienst auf einem kleinen Bahnhof im Altvatergebirge. Entspannung findet er beim Lesen alter Fahrpläne. Was allerdings keiner weiß: Immer mehr wird der pedantische Schnurrbartträger von quälenden Visionen geplagt. Szenen, die er Jahrzehnte zuvor an eben dieser Station nahe der tschechoslowakisch-polnischen Grenze verfolgt hatte, lassen ihn nicht los: Seien es Richtung Osten rollende Züge während des Krieges, ein Mord während des Abtransports der Deutschen aus dem nahen Städtchen oder die einrückende Sowjetarmee.

Ein mysteriöser Stummer, der sich über die Grenze schleicht und eines Tages auf dem Bahnsteig auftaucht, verhilft den Geistern der Vergangenheit endgültig zum Durchbruch. In der Psychiatrie treffen sich die beiden Männer wieder. Nebel sucht die Nähe des Fremden, der ihm vertraut erscheint, und findet zu sich selbst. Das lässt ihn gesunden. Er schaut nach vorn. Gleichzeitig wird er zurückgeworfen: Auf seinem geliebten Bahnhof gibt es keinen Platz mehr für ihn. 

Vertraute Strukturen – im Persönlichen wie, nach der Samtenen Revolution, im Politischen – lösen sich auf. Als Obdachloser erlebt er, nunmehr am Prager Hauptbahnhof, eine weitere markerschütternde Überraschung: In der Toilettenfrau Kveta findet er die Liebe seines Lebens. Doch ist Nebel schon so weit, sich einem anderen Menschen völlig hinzugeben? Er fährt zurück in die Berge. Dort will er die Schatten der Vergangenheit besiegen. Auch der Stumme taucht plötzlich wieder auf, um das Unrecht, das er als Kind zwischen den Gleisen mit ansehen musste, zu rächen.

Menschliche Schwächen

Wie schon im Comic, nimmt Nebel einen sofort für sich ein: Gerade, weil dieser stoische Pedant vor allem durch seine Schwächen und die Dämonen, die ihnen plagen, Menschlichkeit in wenig menschlichen Strukturen zeigt. Im Gegensatz zur weitgehend holzschnittartigen Vorlage mit strengen Schwarz-Weiß-Kontrasten schafft die Bildsprache des Films einen wuchtigen sinnlichen Rahmen, der einen sofort mitten in die Handlung am Ende der Welt hineinkatapultiert und den Spannungspegel ganz oben hält: Undurchdringlich türmt sich der dunkle Tannenwald vor einem auf, blickt das Auge in Großaufnahmen von finsteren Gesichtern zwielichtiger Bahnhofskneipengäste. Ganz zu schweigen von den gellenden Pfiffen, den gewitterartigen Lichtblitzen und dem urviehähnlichen Schnaufen, wenn in Nebels Träumen wieder mal eine Dampflok einfährt.

Auch die Dynamik der Figuren und Landschaften erzeugen einen ganz eigenen Sog. Das ist vor allem dem seltenen Verfahren der Retroskopie zu verdanken: Reale Spielszenen wurden von hinten auf eine Mattglasscheibe projiziert, anschließend malte ein Animateur sie ab. Schwarz und Weiß verschwimmen zu einem eher düsteren, mitunter bedrohlichen  Gesamtton, der auch vom Rhythmus an den Film Noir erinnert. Dennoch bleibt genügend Raum für den lakonischen Humor der Autoren. Nebel scheint zum Ende hin immer klarer zu sehen, doch der Zuschauer verliert sich zunehmend in diesem Dickicht aus zarten hellen und kräftigen dunklen Tönen. Selten hat die eigene Orientierungslosigkeit so viel Vergnügen bereitet.


Info: Alois Nebel (Tschechische Republik 2011), Regie: Thomas Lunak, Drehbuch: Jaroslav Rudis, Jaromir Svejdik (nach der Graphic Novel „Alois Nebel), mit Miroslav Krobot, Marie Ludvikova, Karel Roden u.a., 84 Minuten, Sprachen: Deutsch und Tschechisch mit deutschen Untertiteln

ab sofort im Kino

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