Kultur

„El Sistema“ – Eine venezolanische Erfolgsgeschichte

von Jonas Jordan · 25. Januar 2012

„El Sistema ist wie eine große Familie und José Antonio Abreu unser Vater“, sagt Henry Crespo, Musikschulleiter an einer der Musikschulen von „El Sistema“. Der Satz stammt aus dem 2008 gedrehten Dokumentarfilm von Paul Smaczny und Maria Stodtmeier über das 1975 von Abreu gegründete Netzwerk.

Abreu begann damals mit zwölf jungen Musikern in Caracas. Seitdem hat sich viel getan. Heute stützt sich „El Sistema“ auf ein Netzwerk von Musikschulen in ganz Venezuela, in denen über 300.000 Kinder ein Instrument erlernen. Das war 2008 der Anlass für Paul Smaczny und Maria Stodtmeier einen Dokumentarfilm über Abreus Erfolgsgeschichte zu drehen. Am Montagabend zeigte die Junge Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) den Film auf einem gemeinsamen Filmabend mit dem Jungen Freundeskreis der Berliner Philharmoniker.

Darin berichtet José Antonio Abreu, der von vielen einfach „Pappa Dios“ genannt wird, stolz von der Entwicklung seines Projekts seit 1975: „Früher war es gar nicht so einfach, die Bürgermeister in den Provinzen von unserem Vorhaben zu überzeugen. Heute kommen wir der großen Nachfrage gar nicht mehr hinterher.“

Abreus nächstes Ziel: 1 Million Schüler

Der Grundgedanke Abreus bei der Gründung von „El Sistema“ war, das musikalische Potenzial Venezuelas auszuschöpfen und in heimischen Orchestern nicht mehr nur auf europäische Musiker zu setzen. Klassische Musik sollte nicht mehr länger eine Veranstaltung von Wenigen für Wenige bzw. von Wenigen für Viele sein, sondern ein Massenereignis von Vielen für Viele. Das nächste Ziel Abreus ist es, eine Million Schüler in seinen Musikschulen zu haben.

Heute können Kinder bereits mit zwei Jahren in Abreus Musikschulen kommen und in einem sicheren Umfeld ein Musikinstrument erlernen. In Venezuelas Hauptstadt Caracas wachsen rund 90 Prozent der Kinder in Armenvierteln, den so genannten „barrios“ auf. Insbesondere für sie bietet der Unterricht in den Musikschulen eine gelungene Abwechslung vom oftmals gefährlichen Leben in den „barrios“.

Schlagzeuger sind Chaoten, die alles durcheinander bringen

Die Kinder sind häufig sechsmal die Woche nachmittags gemeinsam am Üben. Dadurch bilden sich viele Freundschaften unter den Kindern und Jugendlichen heraus. Der Umgang untereinander ist locker. So scherzt einer der Trompeter: „Wir haben viele verschiedene Instrumente. Alles, was uns für ein Orchester noch fehlt, ist ein Schlagzeuger. Aber Schlagzeuger sind nur Chaoten, die alles durcheinander bringen.“

Finanziert werden die laufenden Kosten von El Sistema zu 90 Prozent vom Staat. Zehn Prozent des Geldes kommt aus der Privatwirtschaft oder von multilateralen Organisationen. „Die Gunst Hugo Chavez’ schwebt ständig wie ein Damoklesschwert über El Sistema“, beschreibt Smaczny die Abhängigkeit des Netzwerks vom venezolanischen Staatspräsidenten. Im Anschluss an die Filmvorführung diskutierte er gemeinsam mit Stodtmeier und Johane González, früher selbst ein Kind von „El Sistema“, mit rund 80 Besuchern.

Konzerte zu Wahlkampfzwecken

Es komme auch schon einmal vor, dass innerhalb von 24 Stunden ein Konzert angesetzt werde, weil das der Präsident vor einer anstehenden wichtigen Wahl so wünsche. Während des Drehs hätten er und Co-Regisseurin Maria Stodtmeier jedoch keine Beeinträchtigungen gespürt. Einzig die Frage nach den politischen Verhältnissen im Land sei ein permanentes Tabu-Thema gewesen. „Das ist ja auch verständlich. Für einen Dokumentarfilm, der irgendwann abends auf arte läuft, wird niemand riskieren wollen, dass dieses erfolgreiche Projekt von einem Tag auf den anderen gestoppt wird.“

Die Stimmung bei den Konzerten von „El Sistema“ in Venezuela beschreibt Regisseur Smaczny „wie auf einem Rockkonzert“. Nach Konzertende drängelten sich hunderte von Fans am Hintereingang, um ein Autogramm der beliebten Musiker zu bekommen. Für übertragbar auf andere, beispielsweise europäische Länder hält er Sistema nicht: „Überspitzt gesagt funktioniert das nur in einem Land mit einer ähnlichen Armutssituation.“

Die Zukunft von „El Sistema“ ist ungewiss

Zur Sprache kam während der gut einstündigen Diskussion im Herman-Wolff-Saal der Berliner Philharmonie auch die ungeklärte Frage nach der Nachfolge des 73-jährigen Abreu. Abreu steht mit uneingeschränkter Autorität an der Spitze von Sistema und hat bislang noch keinen Nachfolger auserkoren.

  „Es ist zu befürchten, dass nach Abreus Tod erst einmal ein interner Machtkampf um seine Nachfolge entfacht“, so die Einschätzung Stodtmeiers. Insofern und aufgrund der Abhängigkeit vom System Chavez scheint „El Sistema“ wohl vorerst ein Erfolgsprojekt auf Zeit zu sein.

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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