Kultur

Einsam im Aufbruch

von ohne Autor · 28. April 2014

Wie lässt sich in einer Gesellschaft, die kaum noch festgefügte soziale Zusammenhänge kennt, in Würde altern? Das chinesische  Drama „Tao Jie – ein einfaches Leben“ sucht  nach Antworten.

Das zentrale Personal bilden zwei Menschen, deren Beziehung wie aus der Zeit gefallen scheint und doch mitten im Hier und Jetzt verortet ist. Wie ein altes Ehepaar leben der Filmproduzent Roger und seine Haushälterin Ah Tao in einer Hongkonger Wohnung. Roger steht bereits für die dritte Generation der Familie, die Ah Tao diskret, aber umtriebig umsorgt. Als Waisenkind war sie ins Haus gekommen, somit mischten sich in ihrem Langzeitjob Dankbarkeit und Pflichtgefühl.

Rogers Eltern und Geschwister emigrierten fast vollständig in die USA , andere Verwandte verstarben nach und nach. Der Mittvierziger blieb allein zurück. Das veränderte wohl auch die Beziehung zu der zierlichen Dame, die das Rentenalter längst überschritten hat und ebenso wenig wie ihr „Schützling“ je eine eigene Familie gegründet hat. Anmerken lassen die beiden sich die Verbundenheit zunächst nicht. Wortlos und ohne Ah Tao eines Blickes zu würdigen, mümmelt Roger die Leckereien vor sich hin, die ihm die treue Seele Tag für Tag auf dem Markt besorgt.

Plötzlich außer Dienst

Manchmal registriert man etwas Vertrautes erst dann mit allen Sinnen, wenn man es zu verlieren droht. So auch Roger: Fast schon wütend pocht er an die Tür, als er abends von einer Dienstreise ohne Schlüssel nach Hause kommt und sich Ah Tao weder blicken noch hören lässt. Wenig später finden wir uns mit ihm im Krankenhaus wieder. Ah Tao hatte einen Schlaganfall. Nun beschließt sie, dass es des Dienens genug sei und sie in einem Altersheim ihren  Ruhestand antreten möchte. Doch wird sie von ihrem jahrzehntelangen Trott lassen können?

In dem Seniorenheim, das Roger für sie ausgesucht hat, findet Ah Tao weder eine sinnvolle Beschäftigung noch Privatsphäre – nur ein dünner Vorhang trennt ihren „Einzelzimmer“ genannten Verschlag von all den vereinsamten und hinfälligen älteren Herrschaften, die sie ständig in Gespräche verwickeln oder anpumpen. Wirkliche Nähe lässt sie nur in Ausnamesituationen zu. Bis auf gegenüber Roger, zu dem die Beziehung immer inniger, aber keineswegs sentimental wird. Ganz im Gegenteil: Immer wieder spielen sich die beiden Übriggebliebenen, die eine trockene Selbstironie pflegen, die Pointen zu. Bis das Schicksal erneut zuschlägt.

So realistisch wie die Erzählweise, mit der Regisseurin Ann Hui („All about Love“) den Alltag in dem klaustrophobisch anmutenden Heim in langen Einstellungen minutiös dokumentiert, ist auch der Hintergrund dieser Geschichte. Zum Einen beruht sie auf wahren Tatsachen, indem sie die Lebensgeschichte der Hausdame des Produzenten von „Tao Jie“ aufgreift. Obendrein wird die Vereinzelung, die bei Rogers und Ah Taos Spaziergängen durch Hongkong anklingt, in Ostasien zunehmend zum Problem. Parallel zur seit Jahrzehnten steigenden Lebenserwartung sinken die Geburtenraten stetig. Schätzungen zufolge steigt der Anteil der über 65-Jährigen in China bis 2050 auf 25 Prozent. Im Jahr 2000 lag er bei sieben Prozent. Doch wer soll sich um die Hochbetagten kümmern?

Würde und Verfall

Hui, die zu den prominentesten Filmschaffenden der  traditionsreichen Hongkonger Szene zählt, legt den Fokus allerdings weniger auf den großen Kontext als auf die Entwicklung von Ah Tao. Die macht nicht viele Worte, doch ihr innerer Konflikt, sich einerseits in das Heimleben zu fügen und zugleich nach Autonomie zu streben, ist durchweg spürbar. So versucht sie, ihre Würde zu bewahren, wenngleich sie grinsend zugibt, dass der körperliche Verfall nicht aufzuhalten ist.

Rettung verspricht der Vorschlag von Rogers Mutter, in eine ehemalige Wohnung der Familie zu ziehen und sich von einer „billigen Südasiatin“ versorgen zu lassen: Das ist einer jener seltenen, aber umso eindrucksvolleren Momente, wo die Schattenseiten der chinesischen Boom-Gesellschaft behutsam offengelegt werden.

Sicherlich hätte Ann Hui ihren knapp zweistündigen Film raffen können oder sogar müssen. Dramatische Wendungen, Widersprüche im Agieren der Protagonisten oder andere Kontrastpunkte halten sich in Grenzen, wenngleich Roger und Ah Tao beweisen, keineswegs dem Archetypen eines Gutmenschen zu entsprechen.

Konsequent hält die Regisseurin den Realismus bis zum Ende durch. Allein Deanie Ip, die wie viele andere Darsteller zur Speerspitze der Hongkonger Filmprominenz zählen, lohnt die Ausdauer. Ihr stoisches und doch höchst präzises Spiel brachte ihr 2011 einen Preis bei den Filmfestspielen von Venedig ein. Auch darüber hinaus feierte der Film bereits zahlreiche internationale Erfolge und wird bereits als Comeback der 1947 geborenen Regisseurin auf dem weltweiten Parkett gehandelt. Eines steht außer Frage: Mit „Tao Jie“ hat Ann Hui den richtigen, nämlich gänzlich unsentimentalen und doch zutiefst menschlichen Ton für ein Thema getroffen, das den Kern des Zusammenlebens in modernen Gesellschaften betrifft.


Info:
Tao Jie – ein einfaches Leben (Hongkong 2011), ein Film von Ann Hui, mit Deanie Ip, Andy Lau,  Wang Fuli, Qin Hailu u.a., OmU, 119 Minuten.

Ab sofort im Kino

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