Kultur

Eine Stunde Null, es gab sie nicht

von Uwe Knüpfer · 10. November 2010
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Sonnes Roman "Und der Zukunft zugewandt" spielt in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs und den ersten Monaten der Nachkriegszeit. Ein verbrecherisches System brach zusammen wie ein Kartenhaus, und zunächst noch lagen die Karten verstreut auf dem Tisch.

Individuelle Schicksale und weltpolitische Handlungslinien

Der Roman spielt in und um Berlin. Im Mittelpunkt stehen die Schicksale eines eher schlicht gestrickten, aber aufrechten Sozialdemokraten und einer polnischen Jüdin. Klaus Weinert und Rebecca Miller begegnen sich im KZ. Beide überleben, unter so gruseligen wie letztlich glücklichen Umständen. Rebecca wird von den sowjetischen Befreiern vielfach vergewaltigt. Klaus irrt orientierungslos durch das zerstörte Berlin. Beide haben ihre Familien verloren.

Eine "Stunde Null" der deutschen Nachkriegsgeschichte, das wird dank Sonnes geschickter Verknüpfung individueller Schicksale und weltpolitischer Handlungslinien überzeugend deutlich, hat es nicht gegeben. Denn die Überlebenden, gleich ob sie Opfer, Täter oder beides waren, wurden im Mai 1945 nicht neu geboren. Sie konnten ihre Schuld und ihr Leiden, ihre Taten und Auslassungen zwar zu verdrängen versuchen, mussten dabei aber scheitern; früher oder später. Und im Hintergrund wurden die Karten der Weltpolitik bereits neu gemischt, gegeben und ergriffen.

Keine Schwarzweißbilder

Klaus Weinert ist dankbar, in Berlin einen Kommunisten wiederzutreffen, dessen Organisationstalent ihn schon im KZ beeindruckt hatte. Es scheint an der Zeit, die Spaltung der Arbeiterbewegung zu beenden; eine Spaltung, so sehen es die Überlebenden, die Hitler dessen "Machtergreifung" mindestens erleichtert hat. Doch Weinert muss erleben, wie der gute Wille der Überlebenden von Stalin und dessen willigen Helfern instrumentalisiert wird. Bald sitzt er wieder im Lager, diesmal von sowjetischen Soldaten bewacht und gefoltert.

Rebecca Miller muss aus ihrer Heimatstadt Lodz Hals über Kopf fliehen, wo sie Unterschlupf zu finden hoffte. Die elterliche Wohnung ist einem verdienten Partisanen zugewiesen worden, Rebecca stört. Der Ex-Partisan will sie vergewaltigen. Sie tötet ihn in Notwehr. Doch niemand will ihr glauben. Dass sie schließlich in Berlin unterkommt, ausgerechnet, in der Stadt der Mörder ihrer Eltern, das verstört sie.

Im Hintergrund agieren Russen, Amerikaner, die Gruppe Ulbricht, die konkurrierenden sozialdemokratischen Führungszirkel um Schumacher in Hannover und Grotewohl in Berlin. Sonne zeichnet dabei keine groben Schwarzweißbilder. Ja, es gibt Gute (Rebecca, Klaus) und Böse, aber nicht selten hat Gutgemeintes böse Folgen, und auch Bösem kann Gutes entspringen.

Eine kurze Epoche, in der alles möglich schien

So gelingt es dem Autor, vermeintliche Gewissheiten zu erschüttern und manches schwarze Loch der Erinnerung zu füllen. Ganz nebenbei leistet er einen Beitrag zum Verständnis der Doppelköpfigkeit der Linken in Deutschland. Wer Sonnes Roman gelesen hat, versteht, auch wenn er tief im Westen wurzelt, ein bisschen besser, warum sich Sozialdemokraten auf dem Gebiet der untergegangenen DDR so schwer damit taten und tun, gewendeten Einheitssozialisten (erneut) die Hand zu reichen.

Werner Sonne ist einem großen Fernsehpublikum als knorriger politischer Korrespondent bekannt. Sein weißer Haarschopf ragt aus jeder Journalistenmeute heraus, ganz gleich ob der ARD-Korrespondent aus Berlin, Warschau oder Washington berichtet. Auch als Romanautor bleibt Sonne einem nüchternen Stil verpflichtet, was manche Charakterzeichnung hölzern wirken lässt. Dennoch ist ihm mit "Und der Zukunft zugewandt" ein beeindruckendes Gemälde einer kurzen Epoche gelungen, in der alles möglich schien. Einer Zeit, die uns auf verstörende Weise fern und zugleich nah geblieben ist.

Werner Sonne: "Und der Zukunft zugewandt", Bloomsbury Berlin Verlag, 2010, 300 Seiten, 22,90 Euro, ISBN-13 9783827009081

Autor*in
Uwe Knüpfer

war bis 2012 Chefredakteur des vorwärts.

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