„Eine Sekunde“: Ein Drama nutzt die Kulturrevolution Chinas als Bühne
Wüste, so weit das Auge reicht. Und mittendrin ein Mann, der sie bis zur völligen Erschöpfung durchquert. Was treibt ihn an? Es ist eine Filmdose. Das klingt märchenhaft und absurd zugleich? Kann sein, aber es passt ins Konzept. „Eine Sekunde“ vereint einige Gegensätze in sich. Weil der Film von einer Zeit der Extreme erzählt.
Das Drama spielt während der sogenannten Kulturrevolution in der Volksrepublik China. Der Mann, der sich mit letzter Kraft durch die Wüste Gobi im Nordwesten des Landes schleppt, ist aus einem Arbeitslager getürmt. Und zwar, um eine Folge der staatlichen Wochenschau zu sehen, in der seine Tochter einen kurzen Auftritt hat.
Für Zhang Jiusheng, den Vater, ist es seit Jahren die einzige Möglichkeit, sein Kind zu Gesicht zu bekommen, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Im Lager hat er erfahren, dass die entsprechende Filmrolle an diesem Tag unterwegs ins nächste Dorf ist, wo sie gemeinsam mit einem Propagandastreifen gezeigt wird. Um jeden Preis will er an der Vorführung teilnehmen.
Wettkampf zwischen zwei Ausgestoßenen
Sein Plan droht zu scheitern. Ein Waisenmädchen ist ebenfalls hinter der Dose her, allerdings aus ganz anderen Gründen. Zwischen den beiden beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel. Immer wieder wechselt die Filmdose den oder die Besitzer*in. Und es wird klar, dass sowohl Zhang als auch das Mädchen namens Liu Ausgestoßene des Systems sind. So entsteht eine besondere Verbindung zwischen den beiden.
Mit „Eine Sekunde“ legt Chinas wohl renommiertester Regisseur Zhang Yimou einen Film von ungeheurer Wucht vor, sowohl visuell als auch auf der Handlungsebene. Diese Wucht baut sich im Rahmen einer eher lakonischen Inszenierung langsam auf. Dramatisches und Komisches liegt dicht beieinander. Fein nuanciert werden die Repression und ihr manipulatives Grundwesen erlebbar. Je mehr das frühere Leben des Mannes in dem zerschlissenen Sträflingsanzug entschlüsselt wird, desto deutlicher wird das Bild jener Zeit des Massenterrors.
Diesen kennt der 1950 geborene Filmemacher aus eigener leidvoller Anschauung. Seine Eltern wurden Mitte der 60er-Jahre wegen ihrer Nähe zur Kuomintang verfolgt. Er selbst wurde zur Landarbeit verschickt.
Dass wir in seinem Protagonisten Zhang Jiusheng plötzlich viel mehr sehen können als einen wortkargen Herumtreiber, haben wir „Kino-Onkel“ zu verdanken. Der Filmvorführer ist der wichtigste Mann im Dorf und entlockt dem Fremden einige Geheimnisse. Gemeinsam arbeiten sie an einem wichtigen Rettungsprojekt.
Mythos Kino
Unter chaotischen Umständen erreicht die Filmdose am Ende doch noch das Wüstendorf. Um das kommunistische Heldenstück zeigen zu können, muss die meterlange Filmrolle per Hand gewaschen und getrocknet werden. Dafür spannt „Kino-Onkel“ die gesamte Dorfgemeinschaft ein. Das Kulturhaus, in dem die sehnsüchtig erwarteten Kinoabende so zelebriert werden wie religiöse Hochämter, wird zu einer wimmeligen Filmwaschanlage.
Kino als Ort der Beeinflussung, aber auch tiefer Erfahrungen, sei es allein oder in Gemeinschaft: Zhang Yimou findet immer wieder starke und vor allem klischeefreie Bilder für den „Mythos Kino“, hier in der besonderen Form des Wanderkinos. Und das mit einer ausgeprägten Hingabe für klackernde analoge Filmaustattung.
Für ambitionierte Filme wie „Rotes Kornfeld“ oder „Rote Laterne“ wurde Zhang Yimou mit internationalen Preisen ausgezeichnet. In China geriet er immer wieder in Konflikt mit der Zensur, viele Werke landeten im Giftschrank. Zwischendurch verlegte sich der Regisseur auf unverdächtige Blockbuster wie „Hero“ oder „The Great Wall“. Das Regime goutierte sein „Wohlverhalten“, indem es ihn mit der Federführung der Eröffnungs- und Schlussfeier der Olympischen Winterspiele in Peking beauftragte.
Wie wenig Zhang Yimou dennoch mit einem Staatskünstler zu tun hat, zeigt sein neuer Film. „Eine Sekunde“ hätte im Wettbewerb der Berlinale 2019 laufen sollen, wurde aber vier Tage davor wieder zurückgezogen, wegen angeblicher Probleme in der Postproduktion. Ein einmaliger Vorgang. Ende 2020 war der Kinostart in China.
Einfluss chinesischer Zensur
Und nun auch hierzulande. Dabei handelt es sich offenbar um eine geänderte und um eine Minute gekürzte Fassung. „Zeit Online“ berichtet unter Berufung auf chinesische Websites, dass ein Dialog über die Hintergründe des Vater-Tochter-Verhältnisses entfernt wurde. Der Epilog, der dem Ganzen einen optimistischen und umso märchenhafteren Hauch verleiht, sei erst im Nachhinein entstanden.
Das erklärt, dass „Eine Sekunde“ einige Leerstellen hat und offene Fragen hinterlässt. Umso bedeutsamer und bedrückender ist, was uns der Film trotz der Gängelung durch die Zensur über seine Figuren und über China zu sagen hat. Und das mit Mitteln, die die zwiespältige Kraft des Kinos beschwören.
„Eine Sekunde“ („Yi miao zhong“, China 2020), Regie: Zhang Yimou, Drehbuch: Zhang Yimou, Zou Jingzhi, mit Zhang Yi, Liu Haocun, Fan Wei u.a., 104 Minuten.