Kultur

Eine Kindergeschichte in Auschwitz

von Edda Neumann · 19. August 2009
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Boyne erzählt seine Geschichte aus der Sicht des neunjährigen Bruno. Der Vater ist ein hoher Funktionär im "Dritten Reich". Von einem Mann, den alle nur den "Furor" nennen, ist er für "große Aufgaben" vorgesehen. Er wird Kommandant in einem Ort in Polen, von dem sich Bruno nur den Namen "Aus-Wisch" merken kann. Im Jahr 1942 zieht Bruno mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester von Berlin in eine Villa an diesen Ort. Damit gerät Brunos Leben völlig aus den Fugen. Ohne Spielkameraden ist das neue Zuhause trist und langweilig. Seine Schwester Gretel ist mit sich und ihren Puppen beschäftigt. Aus seinem Fenster erblickt Bruno einen langen Zaun, jede Menge Soldaten und zahllose Menschen in vermeintlich gestreiften Pyjamas. Dies findet Bruno seltsam. Jedoch wird in seiner Familie darüber nicht geredet.

Hinter dem hohen Zaun


Bruno beginnt seine neue Heimat zu erforschen, wie er es mit seinen Freunden in Berlin schon immer gemacht hat. Seine Expeditionen werden mit jedem Tag länger. Eines Tages entdeckt er hinter dem Zaun eine Gestalt: Es ist ein dünner und kränklich wirkender Junge etwa im gleichen Alter wie Bruno namens Schmuel. Erstaunt stellen beide fest, dass sie am gleichen Tag Geburtstag haben und ungewollt an diesem fremden Ort leben müssen. Es ist der Beginn einer ungewöhnlichen Freundschaft - geprägt vom Nichtwissen über das Lager und das Schicksal seiner Insassen.
Schmuel und Bruno werden für einander immer wichtiger. Brunos Neugierde, was sich auf der anderen Seite des Zaunes befindet, wächst stetig, Als Schmuels Vater verschwindet, hilft Bruno seinem Freund bei der Suche. Er krabbelt unter dem Zaun auf die andere Seite und zieht ebenfalls einen gestreiften Pyjama an. Was Bruno zu Gesicht bekommt, entspricht so gar nicht seinen Vorstellungen.

Auschwitz als Fiktion


Der historisch informierte Leser ahnt sehr schnell, in welcher Zeit Bruno lebt und an welchen düsteren Ort es die Familie verschlagen hat. Boyne konstruiert seine Geschichte so, dass Bruno völlig auf sich allein gestellt ist und seine Umgebung selbst erforschen und die Dingen nach seinem kindlichen Verständnis einordnen muss. Während Bruno sich schrecklich einsam fühlt, beneidet er Schmuel: Er kann den ganzen Tag im Schlafanzug herum laufen und hat viele Kinder zum Spielen. Fast schon grotesk wirken diese Kinderphantasien auf den Leser, denn es mag kaum möglich sein, dass ein aufgeweckter Junge wie Bruno, der in Berlin zur Schule ging, nichts von den wahren Vorgängen in diesem Lager mitzubekommen scheint. Diese Ungereimtheiten sind gewollt und bieten dem Leser eine naiv-kindliche Perspektive auf den Holocaust. In seiner Unwissenheit nimmt Bruno bestimmte Begebenheiten und Handlungen nur am Rande wahr, die ihm bis zum Schluss rätselhaft erscheinen.

Am Ende der Geschichte verschwindet der kleine Bruno plötzlich spurlos. Aus der Kindergeschichte wird eine Familientragödie. Die Frage, wo Bruno ist, wird zur Qual. Sie zerreist die Familie. Und letztlich bleibt der Vater allein in "Aus-Wisch" zurück.

Boynes Buch kommt ohne grausame Detailbeschreibungen und sprachliche Effekte aus. Die Einfachheit der Deutungen aus kindlicher Perspektive verstärken die Schrecken des Nationalsozialismus. Egal ob Jugendlicher oder Erwachsener: Wer das Buch gelesen hat, wird erschüttert sein.

Edda Neumann










John Boyne: Der Junge im gestreiften Pyjama. Eine Fabel, Fischer Verlag 2009, 272 Seiten, 7,95 Euro, ISBN-13: 978-3596806836 Hier bestellen...

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