Wer dieses Buch nur flüchtig durchblättert, könnte annehmen, es handele sich um eine Sammlung von Kurzgeschichten, mit Namen wie "Der Schrank", "Die Fahrstunde", Im Garten", "Das Kopfkissen"
und "Die Wüste".
Tatsächlich sind dies aber die Kapitel des Romans, den die 1968 in Westberlin geborenen Autorin Tanja Dückers jüngst veröffentlichte. Sie zeichnet darin die Geschichte einer Familie unserer
Tage auf ganz eigene Weise nach. In jedem der Abschnitte lernen wir die Lebensumstände eines Mitglieds der Familie Kadureit kennen.
Der in Insolvenz gegangene Zootierhändler Kadureit, Vater fünf erwachsener Kinder, ist gestorben. Sein Herz hat den Verlust des Lebenswerks und die drückende Hitze des Sommers nicht mehr
verkraftet. Kapitel für Kapitel erfährt der Leser bzw. die Leserin, wie diese Nachricht von den Kindern Bennie, Sylvia, Anna, David und Thomas sowie ihren Partnern oder Partnerinnen (und den
Enkelkindern) aufgenommen wird und wie sie in ihrer Trauer das zurückliegende Leben mit dem Vater Revue passieren lassen. Dies gibt der Autorin die Möglichkeit Lebensentwürfe von Vertretern der
verschiedenen Generationen in ihrem Mit- und Gegeneinander vorzustellen.
Bennies Freundin Nana verfällt in tiefes Nachdenken darüber, wie sie sich in dieser Situation Bennie gegenüber verhalten soll. Dessen Elternhaus galt ihr als Hort des Beständigen in einer
ansonsten von Finanznöten und diversen Ängsten geplagten Welt. Nana weiß, dass das Verhältnis zwischen Bennies Geschwistern getrübt ist. Bennie ist der einzige, der mit allen auskommt, selbst mit
Sylvia.
Sylvia wiederum hatte sich stets als Sachwalterin der väterlichen Interessen gefühlt. Im Gegensatz zu ihren Geschistern unterstützte sie den Vater im Geschäft. Sein Desinteresse gegenüber
gesellschaftlichen Strömungen der Zeit störte sie nicht. Im Gegenteil, es entspricht ihrer eigenen Einstellung. Damit standen sie und der Vater allein in der Familie. Sylvia akzeptiert Bennies
Freundin Nana, weil sie hinter Nanas schreiender Aufmachung deren sensibles und mitfühlendes Wesen spürte.
Sylvias Tochter hingegen lässt diese Sensitivität vermissen Sie gibt stattdessen mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit Kommentare zum Weltgeschehen, die ihre Mutter zur Zuhörerin wider
Willen machen. Hier scheint sich teilweise zu wiederholen, was dem Großvater im Verhältnis zu einigen der Geschwister Sylvias geschah.
Doch im weiteren Verlauf der Romanhandlung ist zu erfahren, dass auch der alte Kadureit seine - verdrängten - Obsessionen hatte. Er schwärmte vom Leben in der Wüste. Seine den Tropen
entstammenden Tiere waren ihm Abglanz dieses Lebens und Ersatz dafür. Die 68er-Bewegung nahm er nur am Rande wahr. Seiner Tochter Anna, einer Psychologin, war er nicht der Gesprächspartner, den
diese sich wünschte. Und die alternativen Lebensentwürfe der Söhne David und Bennie waren ihm fremd. Welch einschneidende Verlusterfahrung die Aufgabe seines Geschäfts für ihn bedeutete, war
wiederum diesen nicht bewusst..
Kadureits jüngster Sohn Thomas folgte seiner Freundin in die Ferne. Er hat die Wüste erlebt, von der sein Vater fabulierte. Die Tiere, die daheim in der Zootierhandlung gehütet wurden, waren
dort, wo sein Vater sie angesiedelt sah, teilweise kaum noch anzutreffen. Thomas denkt darüber nach, dass er den Vater vor der Insolvenz hätte bewahren können. Doch er hatte diesen nicht in Not
vermutet.
Jetzt erzählt Thomas Kadureit seinem Sohn vom Großvater. Der kleine Sohn, der den Großvater nicht mehr kennen lernte, versteht, was der Vater empfindet. Auf diese Weise endet das Buch mit
einem Lichtblick. Verständnis zwischen den Generationen scheint möglich, wo dem eigenen ursprünglichen Lebensentwurf gefolgt wird und gegenseitige Offenheit vorhanden ist.
Tanja Dückers gelingt es mit dem vorliegenden Buch die Bandbreite des Lebens im gegenwärtigen Deutschland am Beispiel einer einzigen Familie anzureißen.
Dorle Gelbhaar
Tanja Dückers "Der längste Tag des Jahres", Aufbau Verlag, Berlin 2006, 211 Seiten, 18,90 Euro, ISBN 3-351-03068-1
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