Die ergänzte Ausgabe der erstmalig 2001 erschienenen Biografie: Gregor Schöllgen beleuchtet das politische, journalistische und das private Leben Willy Brandts, der auf eine sehr nachdrückliche Weise die Geschichte der SPD und damit auch jene der Bundesrepublik Deutschland geprägt hat.
Schöllgen gelingt es, bei aller Nähe Distanz zu halten und an keiner Stelle dem großen Politiker, Journalisten und Familienmenschen zu nahe zu treten. Brandt, der rastlos Reisende, der schon zu Lebzeiten an dem Bild bastelte, das die Nachwelt von ihm haben sollte, war, wie es der Professor für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen formuliert, „ein Mann mit vielen Freundschaften, aber ohne Freunde, gesellig, aber einsam“.
„In den Sozialismus hineingeboren“
Detailreich, aber in einer flüssigen Sprache, die bei Historikern nicht selbstverständlich ist, behandelt Schöllgen die Lebensstationen des unehelich geborenen Lübecker Arbeitersohns, der sich früh in der Arbeiterbewegung engagiert. Brandt sagte von sich, er sei „sozusagen in den Sozialismus hineingeboren“ worden. Mutter und Stiefvater seien „mehr als nur nominelle Mitglieder der sozialdemokratischen Partei, der Gewerkschaft und der Konsumgenossenschaft“ gewesen.
Als Heranwachsender stößt Brandt zu der – sowohl der SPD als auch der KPD kritisch gegenüberstehenden – Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), deren Stockholmer Gruppe sich in der Zeit des Exils – wir schreiben den Winter 1944 – der Sozialdemokratie anschließt.
Die europäischen Hauptstädte lernt der junge Journalist von Norwegen aus kennen, die Welt außerhalb Europas wird er in späteren Jahrzehnten erkunden. Zu reisen wird für Brandt ebenso eine Manie wie das Schreiben. Nach der Befreiung kommt er als Berichterstatter zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen und wagt in Berlin erste tastende Schritte in der SPD, wo ihm vielfach Steine in den Weg gelegt werden: Für die ersten Diffamierungen Brandts sorgen Leute aus den eigenen Reihen. Dass er sich nicht einschüchtern lässt, spricht für seine Standfestigkeit.
Der Kampf um die „Nachrüstung“
Am 7. Dezember 1970 dann die ganz große Geste, das Niederknien vor dem Mahnmal für die jüdischen Opfer des Warschauer Ghettos. Schöllgen schreibt: „Dass gerade er, der in der Zeit des ‚Dritten Reiches’ selbst Verfolgter, nicht Täter gewesen ist, sich für sein Volk zu diesem Schuldeingeständnis bereitfindet, gibt diesem Kniefall sein besonderes Gewicht.“
Zu Brandts innenpolitischer Bilanz gehören die Reform des Sexualstrafrechts (Stichwort: Homosexualität wird nicht mehr verfolgt – eine alte Forderung der Arbeiterbewegung), aber auch die Berufsverbote und jener denkwürdige Satz, der in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist: Dass man „mehr Demokratie wagen“ wolle. Schöllgen weicht keiner Frage aus und berichtet redlich über Siege und Niederlagen Willy Brandts, seine starken und seine zeitweise problematischen Angewohnheiten, seine Freunde, wie Egon Bahr einer war, und seine – zumindest zeitweise – Widersacher, nennen wir hier Herbert Wehner.
Dem Bild Brandts Tiefenschärfe verleihen
Von allen dem Rezensenten bekannten Lebensbeschreibungen ist Schöllgens Werk eines der besten, weil es auf rund 300 Seiten dem Bild Brandts Tiefenschärfe verleiht. Das Dutzend Fotos ist gut ausgewählt, Abkürzungsverzeichnis und Personenregister sowie eine kommentierende Bibliographie runden das Buch ab.
Schöllgen, der vor allem mit Biografien bekannt wurde, ist einer der Hauptherausgeber der zehnbändigen Berliner Willy-Brandt-Ausgabe und zählt zu den produktivsten deutschen Zeithistorikern. Wenig Glück hat er in den letzten Jahren mit seinem „Zentrum für angewandte Geschichte“ (ZAG), in dem vor allem unternehmensgeschichtlich orientierte Darstellungen erscheinen, mit denen er sich in einer renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift den Vorwurf der „Apologetik“ zugezogen hat.
Gregor Schöllgen, Willy Brandt. Die Biographie. Berlin-Verlag, Berlin 2013, 328 Seiten, 19,99 Euro. ISBN 978-3-8270-1152-7
Matthias Dohmen hat Germanistik, Geschichte, Politologie und Philosophie studiert, arbeitet als freier Journalist und ist 2015 mit einer Arbeit über die Rolle der Historiker West und Ost im "deutschen Geschichtskrieg" promoviert worden.