Kultur

Ein Leben für die praktische Vernunft

von Klaus-Jürgen Scherer · 18. Juni 2014

Er prägte unsere Geistesgeschichte, er ist der meistzitierte deutsche Philosoph der Gegenwart. Jürgen Habermas, der weltweit bedeutendste lebende Sozialphilosoph Deutschlands, wird 85.

Sein der Freiheit und Gerechtigkeit gewidmetes wissenschaftliches Oeuvre, sein kritisches Denken in praktischer Absicht, sein vielfältiges politisch-philosophisches Engagement waren im Grunde immer der sozialen Demokratie verpflichtet: reformpolitisch, marktkritisch, gegen rechts, demokratisierend, wider falschen Nationalismus, für Europa, in globaler Verantwortung, vernunftorientiert, auf Aufklärung und Sprache statt auf Gewalt setzend. Er ist ein „public intellectual“ aus einer Generation, deren Beste – wie Günter Grass, Erhard Eppler oder Walter Jens – aus der Verarbeitung ihrer Nazijugend heraus Konsequenzen zogen und zu politisch-intellektuellen Wegbereitern der bundesdeutschen Demokratiegeschichte wurden.

Klare lange Linien einer Gesellschaftstheorie, „Theorie des kommunikativen Handelns“, so sein Opus Magnum von 1981, verbanden sich mit immer wieder erneuerter Selbstreflektion und permanenter Kritik. Begonnen hatte dies 1953 als der 24-jährige frisch Promovierte Heidegger‘s mangelnde Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus öffentlich anprangerte.

Stimme des Linksliberalismus


Habermas wurde in der akademischen Nachfolge von Adorno und Horkheimer, als Fortsetzung der Frankfurter Kritischen Theorie, seit Mitte der 60ger Jahre zu der Stimme des Linksliberalismus in Deutschland schlechthin. Gerade diese zuverlässige Verortung hebt ihn ab von anderen Autoren, die eher – wie Martin Walser – dem wandelnden Zeitgeist folgten oder – wie Peter Sloterdijk  – mit postmoderner Beliebigkeit spielen.

Seinem wissenschaftlichen Werk kann man in ein paar Zeilen nicht gerecht werden, die Frage nach den Bedingungen und Chancen vernünftiger Verständigungsverhältnisse in der sozialen Welt steht im Mittelpunkt. Wie groß Habermas‘ Einfluss ist, wird anhand der vielen Begriffe deutlich, die zumindest in den – intellektuellen – allgemeinen Sprachgebrauch eingingen: herrschaftsfreie Kommunikation, Diskursethik, Streitkultur, deliberative Demokratie, Kolonialisierung der Lebenswelt, postsäkulare Gesellschaft, nachmetaphysisches Denken, neue Unübersichtlichkeit, Verfassungspatriotismus, Einbeziehung des Anderen, Selbstermächtigung der Politik gegen die Übermacht des Finanzsektors, postnationale Konstellation – diese Liste ist alles andere als vollständig. Er hat, so hieß es einst bei der Friedenspreis-Verleihung, „mehr als einer Generation die Stichworte zur geistigen Situation der Zeit vermittelt“.

Systematisch-abtrakter Denker


Es gab 1995 den legendären Aprilscherz der FAZ, Habermas habe nun seine Autobiographie geschrieben: Das Beliebige einer Biographie, das Subjektive und Emotionale schien einem solch systematisch-abstrakten Denker, dem es um kommunikative Rationalität geht, komplett zu widersprechen. Jetzt jedoch hat Stefan Müller-Doohm, der Adorno-Biograph, bei Suhrkamp eine 700-Seiten-Biographie vorgelegt, die zeigt, wie Lebensstationen und Werkgeschichte miteinander verknüpft sind. Sie basiert auch auf ausführlichen Gesprächen mit Habermas selbst, hat so gewissermaßen einen offiziösen Charakter.

Das Buch eignet sich wunderbar als Einstieg, der hinführen sollte zur Lektüre der wissenschaftlichen und essayistischen Orginaltexte, etwa der als suhrkamp Taschenbücher erscheinenden „Kleinen politischen Schriften“. Man lernt, wie philosophische Reflexionen und intellektuelle Interventionen zusammenhängen; gewissermaßen zwischen dem „Elfenbeinturm sozialwissenschaftlicher Forschung“ und der „Kampfzone ideenpolitischer Kontroversen“, um zwei Kapitelüberschriften zu zitieren. Wie war die Assistentenzeit bei Adorno, wie war sein Verhältnis zu so gegensätzlichen Persönlichkeiten wie Abendroth und Gadamer? Wie verhielt es sich mit dem Habermas‘ Vorwurf des Linksfaschismus an Rudi Dutschke? Warum war der Historikerstreit eigentlich ein Meilenstein hin zu mehr demokratischem Selbstbewusstsein in Westdeutschland? Warum forderte das gefährliche Freund-Feind-Denken eines Carl Schmitt Habermas besonders heraus? Mit welchen Argumenten sollte aus dem Völkerrecht ein Weltbürgerrecht entstehen? Oder wie war die Habermas‘sche Auseinandersetzung mit Marx, besonders mit dessen Frühschriften? usw. usf.

Kämpfer für „das andere Europa“


Habermas hat den Gesprächsfaden zur SPD nie abreißen lassen, hat diese bei aller Kritik im Einzelnen immer wieder beraten und unterstützt. Besonders sein europapolitisches Engagement der letzten Jahre sei hervorgehoben. Im Aufruf „Wählt Europa!“ zur diesjährigen Europawahl schrieb er gemeinsam mit Ulrich Beck einen fast prophetischen Satz: „Wollen wir das ‚Weniger-Europa‘ eines David Cameron, das vom Marktimperativ bestimmt wird, oder ein ‚anderes Europa‘, das den Markt demokratischen Regeln unterwirft, wie es dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, vorschwebt?“. Seine Analysen zur institutionellen Neuordnung Europas, sein Plädoyer gegen den falschen Populismus der Abschottung, seine Kritik am marktliberal-technokratischen Europa, sein Engagement für einen neuen Demokratisierungsschub, seine Vision eines Europa als Vorbild für eine neue Ära der supranationalen Demokratie und Solidarität, gar als Schritt zur friedlichen Weltbürgergesellschaft mit globaler Verfassungsordnung: Wir sehen, bis heute versteht es Habermas bestens die entscheidenden Selbstverständnis- und Zukunftsdebatten mitzuprägen.

Politischer Intellektueller


„Es ist diese Reizbarkeit, die Gelehrte zu Intellektuellen macht“, welch wunderbares Zitat auf dem Buchrücken von Müller-Doohm. So versteht sich Habermas, wie er bei philosophy meets politics IX des Kulturforums der Sozialdemokratie einst betonte, „als einen Intellektuellen, der eher fürs Normative einer etwas ausgreifenden Perspektive als für das Pragmatische der naheliegenden Probleme zuständig ist“. Genau dies, den politischen Intellektuellen, der über den Tag hinausdenkt, braucht eine Politik, die Kritik und Gestaltung noch kennt – übrigens angesichts all der Berater, Agenturen, Werber und Lobbyisten mehr denn je.

Ein herzlicher Geburtstagssalut an den Starnberger See.

Autor*in
Klaus-Jürgen Scherer

ist Redakteur der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare