Kultur

Ein Junge, fünf Schüsse und die Folgen

von Vanessa Jasmin Lemke · 28. Oktober 2013

„Schon bald sollte klar werden, dass die fünf Schüsse von Paris der Weltgeschichte einen Stoß Richtung Abgrund gaben.“ Mit viel Spannung und äußerst detailreich beschreibt das neue Buch von Armin Fuhrer den Auslöser der Pogromnacht 1938.

Die Tat eines 17-Jährigen veränderte im November 1938 die Weltgeschichte. Herschel Grynszpan, ein Junge polnischer Herkunft, der aber in Hannover geboren wurde und aufwuchs, verübte am 7. November 1938 ein Attentat. Mit fünf Schüssen verletzte er den Legationssekretär der deutschen Botschaft Ernst vom Rath. In der Nacht vom 9. auf den 10. November brannten daraufhin überall im Deutschen Reich Synagogen und jüdische Geschäfte.

„Er war impulsiv, intelligent und politisch interessiert“

 „Herschel war darüber empört, wie mit den Juden in Deutschland und mit seiner Familie umgegangen wurde. Er war stark religiös und impulsiv“, sagte der Autor Armin Fuhrer bei der Vorstellung seines Buches über Grynszpan in Berlin. Im Kapitel „Polenaktion“ beschreibt Fuhrer die Abschiebung tausender in Deutschland lebender Juden im Oktober 1938. Aus Angst, sie nicht mehr loszuwerden, weil ihnen nach polnischem Recht nach einer bestimmten Zeit die Staatsangehörigkeit entzogen worden wäre, seien sie in Abschiebehaft genommen worden. Sie wurden an die polnische Grenze gebracht und sich selbst überlassen. Auch Herschels Eltern und Schwester waren davon betroffen.

Zu dieser Zeit lebte Grynszpan illegal und versteckt bei seinem Onkel in Paris. Als er aus der Zeitung von den Deportationen erfuhr, schrieb er seiner Familie einen Abschiedsbrief, ging in ein Waffengeschäft und kaufte einen Revolver. Der weitere Verlauf der Geschehnisse ist Geschichte und Mythos zugleich. Nachdem Grynszpan Ernst vom Rath niedergeschossen hatte, wurde er verhaftet und wieder auf freien Fuß gesetzt. Nach zwei Jahren Flucht durch Frankreich wurde er schließlich vom Vichy-Regime an NS-Deutschland ausgeliefert. Es ist ungewiss, was aus Grynszpan wurde. Die letzte Aufzeichnung, die ihn erwähnt, stammt aus dem KZ Sachsenhausen bei Oranienburg 1942.

Weder sein Tod noch sein Leben wurden dokumentiert. Konnte er entkommen? War er unter anderem Namen abgetaucht? Es gab Zeugen, die ihn nach Ende des Zweiten Weltkrieges noch gesehen haben wollen. Bewiesen wurden diese Aussagen nie. 1960 wurde Herschel Feibel Grynszpan in der Bundesrepublik offiziell für tot erklärt.

Die Legende „Herschel“

Dass nichts über Grynszpans Leben nach 1942 bekannt ist, stärkt den Mythos „Herschel“. Es entstanden viele Theorien über die Beweggründe für das Attentat des 17-Jährigen und über seinen Verbleib. Der Journalist und Autor Michael Graf Soltikow veröffentlichte 1952 in der westdeutschen Zeitung „Wochenend“ einen Artikel über die vermeintlich homosexuelle Beziehung vom Raths und Grynszpans. Die Tat sei eine Beziehungstat und politisch irrelevant gewesen.

Armin Fuhrer widerlegt in seinem Buch diese und ähnliche Thesen. Als erster hatte er Zugang zu über 3500 Seiten neuen Aktenmaterials aus dem bayerischen Staatsarchiv. „Vieles wurde vorher noch gar nicht beachtet oder übersehen“, sagte der Autor über die Quellenarbeit. Die intensive Aufzeichnung der Zeitgeschichte zeigt viele neue Aspekte auf, die die Umstände der Reichspogromnacht 1938 detaillierter beschreibt als bisher Veröffentlichtes.

Armin Fuhrer: "Herschel Grynszpan – Das Attentat des Herschel Grynszpan am 7. November 1938 und der Beginn des Holocaust". 365 Seiten, Berlin Story Verlag 19.80 Euro.

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Autor*in
Vanessa Jasmin Lemke

war Praktikantin beim vorwärts (2013).

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