So märchenhaft kann der Kapitalismus sein: „Ufo In Her Eyes“ karikiert die plötzliche Goldgräberstimmung in Chinas Provinz, hat aber die globale Ausbeutung von Menschen und Ressourcen im Blick. Mit der Filmemacherin Xiaolu Guo sprach vorwärts.de über die Hintergründe ihres gar nicht so abgehobenen Warnrufs.
vorwärts.de: In ihrem Film beamt ein Ufo ein abgelegenes chinesisches Dorf ins 21. Jahrhundert. Trägt nicht auch China ufoartige Züge – wegen seiner rasanten und widersprüchlichen Entwicklung?
Xiaolu Guo: Ja, China ist defintiv ein Ufo. Chief Chang, die Dorfchefin, verkörpert genau diese Widersprüche. Sie ist ein ideologischer Schrottplatz und sammelt alles, was ihr in den Kram passt, um es für ihre Zwecke zu benutzen. Am Anfang ist sie Maoistin. Dann kommt das Ufo. Jetzt sagt sie: Sozialismus ist keine Armut. Nun müssen wir jeden reich machen. Das ist kapitalistisches Denken! Dieser Film ist ein Manifest dafür zu sagen: Alle Ideologien sind ein Witz der Geschichte. Keine davon ist größer als unser Planet – der hat ein eigenes Schicksal! Es gibt keinen anderen, wo wir hingehen können.
Sie sagen, Ihr Geburtsland entwickle sich auf amerikanische Weise – was heißt das konkret?
Nicht nur China, auch Deutschland und Europa, Albanien und Russland steuern auf den amerikanischen Kapitalismus zu. Alles kann kommerzialisiert werden. Am Anfang zeige ich, wie Menschen vom Land leben, ohne es auszubeuten. Kaum ist das Ufo gelandet, beginnt die Zerstörung im Dienste des Tourismus. Vor diesem Durcheinander will Kwok Yun, die Hauptfigur, mit eben jenem Ufo fliehen. Wir wissen nicht, wohin sie reist, aber sie muss diese verdorbene Realität verlassen.
Was will uns Ihr Film über China sagen?
Dies ist keine chinesische Geschichte, es geht um das Schicksal der Menschheit, um die Hoffnungslosigkeit gegenüber dem angeblichen Fortschritt. Wir zerstören die Natur für geldgetriebene Wünsche und leben nur für den Moment. Nach dem Motto: Lass uns ein Auto kaufen – und dann? Wir sind verrückt, aber keinen kümmert es. Ich erzähle eine chinesische Geschichte darüber, wie der Westen den Kapitalismus erfand – also über ein westliches und ein chinesisches Problem.
Ähnlich wie Kwok Yun wuchsen Sie in einem südchinesischen Provinznest auf. Wie viel steckt von Ihnen in der Protagonistin, die mit ihrem Umfeld hadert?
Meine Jugend war die eines Dorfpunks. Noch heute verspüre ich eine Hassliebe gegenüber dem Landleben. Ich liebe die bäuerliche Landschaft mit Bergen, Fluss und Büffeln, wie man sie zu Beginn des Films sieht. Diese Bilder wirken wie eine Utopie. Menschen, die mit der Natur arbeiten, sind friedlicher als andere. Andererseits hasse ich deren fehlende Offenheit, deren Vorstellungen von der Zukunft.
Chinas Mittelschicht wächst. Konnten Sie während des Drehs ein zunehmendes politisches Selbstbewusstsein feststellen?
Ob in der Stadt oder auf dem Land: Die Menschen beschweren sich mächtig, aber keiner tut es auf offiziellem Wege. Sie wissen Bescheid – der Regierung ist das klar. Die Frage ist, was sie gegen die Missstände tut. Es muss sich was ändern. Das ist eine gewaltige Aufgabe in diesem riesigen Land mit seinen Traditionen. Die Lage ist ziemlich undurchsichtig.
Sie drehten ohne Genehmigung, arbeiteten aber eng mit den lokalen Behörden zusammen und engagierten Laiendarsteller: Stieß die satirische Aufarbeitung der chinesischen Realität bei Ihren Partnern auf Widerspruch?
Allein in der Szene des Aufruhrs gegen die Investoren spielen 200 echte Bauern aus den umliegenden Dörfern mit. Diese Leute hatten kein Problem damit, die Realität abzubilden. Auch nicht mit dem ironischen Blick. Sie dachten sich: Wenn du mich bezahlst, tue ich alles für dich. Es war schon seltsam: Intellektuellen ist bewusst, welche Macht die Komödie hat, den Bauern offenbar nicht. China ist riesig, es gibt viel Platz zum Spielen, das macht das Land auch frei. In Europa zu filmen, ist viel reglementierter.
In jener Szene, die Sie erwähnen, legt sich ein Bauer vor einen Laster und reißt sich sein T-Shirt vom Leib. Man fühlt sich dabei an die Bilder vom Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens erinnert.
Das ist Ihre Vorstellung, nicht meine. Andererseits gibt es natürlich einen Bezug.
Wie gut kennt der Westen China – und umgekehrt?
Die Welt weiß viel zu wenig über China. Ich habe das Land vor sieben Jahren verlassen, seitdem rede ich Englisch und Französisch. Ich war gezwungen, viel zu lernen und lerne weiter. Wer im Westen spricht Chinesisch? Das macht mich unzufrieden: Wir kennen Euren Shakespeare, Dickens und Fassbinder. Welchen unserer Künstler kennt Ihr? Wie könnt Ihr eine Kultur verstehen, ohne einen gewissen Aufwand auf Euch zu nehmen? Wer eine andere Kultur begreifen will, muss sich dafür Zeit nehmen! Was ich in der BBC oder auf CNN über China sehe, ist nichts als Propaganda.
Was können Chinesen über den Westen lernen?
Wir wissen längst alles. Allerdings haben wir den kapitalistischen Weg 300 Jahre später eingeschlagen. Es gab bedeutende Traditionen in Handel und Handwerk, aber während des Opium-Kriegs im 19. Jahrhundert wurden wir fertiggemacht, vor allem von Großbritannien. Davor war China hoch entwickelt, besaß eine starke kulturelle Identität. Daher rührt unser Problem. Bis heute regiert die amerikanisch-britische Finanzmacht. So werden wir gezwungen, Dinge auf westliche Art zu tun.
Sie leben in London, somit können Sie freier agieren als jene Künstler, die in China bleiben – was sich besonders dramatisch am Beispiel Ai Weiwei gezeigt hat. Was bedeutet das für Ihren Blick auf das Reich der Mitte?
Was heißt freier? Frei von Zensur? Die Distanz macht mich unabhängig von der Lage vor Ort. Andererseits gibt es auch westliche Propaganda. Die ganze Welt ist gegen China und sein sogenanntes sozialistisches System. Ich will mich auch davon nicht beeinflussen lassen, sondern unabhängig bleiben. Ai Weiwei ist ein großartiger Künstler: Es ist dumm, ihn daran zu hindern, sich frei zu bewegen. Er hat so viel Aufmerksamkeit. Es ist wie eine Bestrafung.
Sie bezeichnen sich als No-Budget-Filmemacherin. Um unkonventionelles Kino zu fördern, gründeten Sie das Metaphysical Cinema Syndicate in London. Was können wir in nächster Zeit von Ihnen erwarten?
Ich arbeite gerade an einem Dokumentarfilm über die Arbeiterklasse in Großbritannien. Der Titel lautet „Es war einmal ein Proletarier“. Früher wussten wir, was die Arbeiterklasse ist. Und heute? Es gibt einen chinesischen Film namens „16 Chapters“ über die verschiedenen gesellschaftlichen Klassen in China, ausgehend von den Proletariern. Das Gleiche will ich über Großbritannien machen, dessen Arbeiterklasse immer mehr verarmt. Es geht auch um die marxistische Theorie. Eisenstein hat mal gesagt, er wolle einen Film über „Das Kapital“ machen. Ich denke, das ist unmöglich. Aber vielleicht kann ich es versuchen?