Es ist nicht leicht, bei den verschiedenen Handlungssträngen, diversen Zeiten und einem umfangreichen Personal den Überblick zu behalten. Fast 700 Seiten lang ist der Familienroman „Des Fremden Kind“ aus der Feder Alan Hollinghursts.
Sommer 1913 auf dem Landgut „Two Acres“ (Zwei Hektar). Die ersten Diskussionen über den „deutschen Krieg“, den viele fürchten und der einigen nicht schnell genug kommen kann. Zu denjenigen, die lieber heute als morgen zu den Waffen greifen würden, gehört der Student und junge Dichter Cecil Valance. Er stammt aus „gutem Hause“ und begleitet seinen Freund George Sawle zu dessen Familiensitz. Dort trifft er die sechzehnjährige Daphne, die alles tut, um das Interesse des Gedichtschreibers auf sich zu ziehen.
Patriotischer Lebemann
Valance schreibt schließlich ein paar Verse in ihr Poesiebuch, die aber eher ihrem Bruder gewidmet zu sein scheinen. Mit dem verbindet ihn eine erotische Beziehung. Homosexualität spielt eine große Rolle in dem Roman. Der Autor thematisiert den gesellschaftlichen Umgang mit gleichgeschlechtlicher Sexualität vom Verbot bis zur heutigen Legalisierung, was nicht mit gesellschaftlicher Anerkennung verwechselt werden darf. Offen bleibt bis zum Schluss, ob der patriotische Lebemann der Vater von Daphnes erstem Kind ist.
Der Dichter stirbt auf einem der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, was seinen frühen Ruhm verfestigt und ihn zu einer Person der Literaturgeschichtsschreibung macht. Mehrere Biographen versuchen sich an ihm, immer wieder werden Daphne und George zum Idol Cecil Valance befragt. Daphne gibt Jahrzehnte später zu Protokoll, er bedeute ihr nichts – „vor sechzig Jahren war ich fünf Minuten verrückt nach ihm“.
Seite um Seite
Immer neue – mitunter erstaunliche – Erkenntnisse bringen die Valance-Biographen zu Papier, aber Hollinghurst lässt offen, was daran wahr und was erfunden ist. Es kommt mehr auf die Umstände an, in denen die Menschen leben und die mitunter sehr ins Detail gehend beschrieben werden.
Hollinghurst wurde 1954 in Stroud geboren und hat lange als Literaturkritiker des „Times Literary Supplement“ gearbeitet. Später trat er als Autor von Kinderbüchern und phantastischer Literatur hervor. Vor allem für seinen Roman „Die Schönheitslinie“, 2005 ebenfalls bei Blessing erschienen, erhielt er zahlreiche Preise. Gerühmt wird vielfach die breite Entfaltung des Zeitkolorits der britischen Gesellschaft, die ihn leider dazu verführt, trotz zahlloser Andeutungen und nicht zu Ende geführter Handlungsstränge Kapitel um Kapitel und Seite und Seite zu verfassen. Ein Buch mithin für ein ganzes Wochenende oder ein paar Tage eines verregneten Urlaubs.
Alan Hollinghurst: „Des Fremden Kind“. Roman. Karl Blessing, München 2012, 686 Seiten, 24,95 Euro. ISBN 978-3-89667-468-5
Matthias Dohmen hat Germanistik, Geschichte, Politologie und Philosophie studiert, arbeitet als freier Journalist und ist 2015 mit einer Arbeit über die Rolle der Historiker West und Ost im "deutschen Geschichtskrieg" promoviert worden.