Kurz vor der politischen Weihnachtspause war es wieder soweit: Bundesratspräsident Jens Böhrnsen (SPD) prangerte während einer Gedenkfeier für die in der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma die alltägliche Diskriminierung ihrer Nachfahren an. Dieses Erinnern ist seit Langem ein fester Bestandteil der letzten Länderkammer-Sitzung im Jahr.
Am 16. Dezember 1942 hatte der Reichsführer SS Heinrich Himmler die Vernichtung sämtlicher als "Zigeuner" diskriminierter Menschen im deutschen Herrschaftsgebiet angeordnet. Mehr als 500 000 von ihnen fanden Schätzungen von Historikern zufolge den Tod. Allein von 40 000 Sinti und Roma, die die NS-Behörden in Deutschland und Österreich erfasst hatten, starben 25 000 in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern der Deutschen.
Verdrängung und Vertuschung
Dieses Verbrechen, aber auch seine Aufarbeitung - bis in die 1980er Jahre ließe sich besser von Verdrängung und Vertuschung sprechen - bilden den historischen Rahmen für ein neues Nachschlagewerk über die Lage der größten europäischen Minderheit in der Bundesrepublik. Michael Krausnick und Daniel Strauß haben das Buch "Von Antiziganismus bis Zigeunermärchen: Handbuch Sinti und Roma" im Auftrag des Verbandes Deutscher Sinti und Roma herausgegeben. Sie richten ihren Blick darin auf ähnliche Felder wie Böhrnsen, der vor zunehmender Hetze gegen Sinti und Roma sowie deren Ausgrenzung im Alltag hinwies. Und damit deutlich machte, worauf es abseits mahnender Gedenkreden ankommt.
Vorurteile und Hass beruhen oft auf Unkenntnis, und dieses Buch könnte eine Menge zu deren Abhilfe beitragen. Dazu gehört auch, die 600-jährige Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland nicht auf Ausgrenzung und Repression, die es auch vor der Verabschiedung der Nürnberger Rassegesetze immer wieder gegeben hat, zu reduzieren. Es gab auch ein friedliches Miteinander von Mehrheit und Minderheit, ohne das eine Überlieferung kultureller Traditionen erheblich erschwert worden wäre. Dies gilt nicht zuletzt für die Musik: Gerade im Jazz und Swing sprengten Sinti-Künstler wie Django Reinhardt die Grenzen ihrer Community.
Doch jenseits des Showlebens, das zeigt dieses Buch, sind antiziganistische Stereotypen, die sich bis heute auch aus der verzerrten Darstellung der "Zigeunermärchen" speisen, nach wie vor Realität. Drohbriefe von Rechtsradikalen, diffamierende Polizeimeldungen oder Benachteiligung bei der Wohnraumvergabe belegen dies.
Politisches Manifest
Das Buch ist auch ein politisches Manifest: In die kurzen Kapitel - die historische, kultur- und sozialwissenschaftliche Aspekte behandeln und teils schockierende Erlebnisberichten enthalten - fließen, mal mehr, mal weniger subtil, die zentralen Forderungen des Verbandes der Deutschen Sinti und Roma ein. Dazu zählen etwa die Entschädigung sämtlicher Überlebender des Genozids nach dem Bundesentschädigungsgesetz und eine Vertretung für Sinti und Roma in allen öffentlich-rechtlichen Medien.
Diese Verquickung tut dem Lesefluss nicht immer gut, zumal die häufig fehlenden Quellenverweise und die bisweilen nicht nachvollziehbare Gliederung dem Anspruch eines wissenschaftlichen Handbuchs schwerlich genügen. Andererseits dürften viele Leser gerade durch diese engagierte Perspektive einen leichten Zugang zu einer Materie gewinnen, die in der medialen Welt nicht gerade übermäßige Beachtung findet. Zur schwierigen sozialen Lage vieler Sinti und Roma heißt es: "Das Ziel der Chancengleichheit und der Hilfe zur Selbsthilfe liegt nach wie vor in weiter Ferne". Vielleicht kann das Buch dazu beitragen, dieser Vision ein wenig näherzukommen.
Michael Krausnick/ Daniel Strauß: Von Antiziganismus bis Zigeunermärchen. Handbuch Sinti und Roma, Books on Demand, ISBN 978-3837057294