„Kinder sind nicht unsere Zukunft, sondern unsere Gegenwart“, stellte Bernd Siggelkow bei der Vorstellung seines neuen Buches „Deutschlands verlorene Kinder“ klar. Er gründete vor fünfzehn Jahren das Jugendhilfswerk „Arche“ und erlebt täglich, was Armut bedeutet.
Kinderarmut in Deutschland? Gibt es nicht! Das hörte Bernd Siggelkow oft, als er anfing, in Berlin Lebensmittel an hungrige Kinder zu verteilen. Tatsächlich aber wächst die Zahl an bedürftigen Jugendlichen jährlich. Das zeigt auch der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht der deutschen Bundesregierung. Siggelkow hat nun gemeinsam mit dem Journalisten Wolfgang Büscher ein Buch über das Versagen des deutschen Bildungssystems und unserer Gesellschaft geschrieben. Am Mittwoch wurde es in Berlin vorgestellt.
„Eigentlich wundert es mich sehr, dass vor mir niemand die Schwächen des deutschen Bildungssystems auf den Punkt gebracht hat“, erklärte Siggelkow bei der Präsentation seines Buches. Schließlich seien die Mängel offensichtlich: Jeder fünfte deutsche Jugendliche sei Analphabet – und es würden jährlich mehr.
Mehr Geld für Bildung
Dass bereits nach der Grundschule entschieden werde, wer welchen Bildungsweg zu gehen habe, sei zu hinterfragen, betonte der Autor: „Die Kinder lernen nicht lange genug zusammen, um voneinander zu profitieren.“ Viel zu früh würden sie in verschiedene Schulformen und damit in verschiedene Schubladen sortiert, erklärte er. Besonders besorgniserregend ist für ihn die große Rolle, die in Deutschland die soziale Herkunft für berufliche Perspektiven spiele. Wer erst einmal an der Hauptschule gelandet sei, gebe häufig auf. „Die stehen doch jeden Morgen mit der Einstellung auf: Aus mir wird sowieso nichts“, stellte der Jugendpastor klar.
Besonders nachdenklich habe ihn das Gespräch mit einer schwedischen Lehrerin gemacht, berichtete Siggelkow. Ihr zufolge sei das Ziel des deutschen Schulsystems, die ganze Klasse weiterzubringen, das des skandinavischen hingegen bestehe in der Förderung des einzelnen Kindes. „Es muss schlicht mehr Geld in Bildung investiert werden“, forderte Siggelkow. Zu viele Jugendliche fielen in Deutschland durchs Netz des Bildungsbetriebs.
Mehr Stellen für Lehrer seien eine zwingende Voraussetzung für eine Besserung der Situation. Nur so könne man eine individuelle Förderung gewährleisten. Schließlich bezahle man die Zeche für Jugendliche, die auf die schiefe Bahn gerieten, ohnehin – nur später: Jugendarrest oder Drogentherapien müssten schließlich auch vom Steuerzahler getragen werden, erklärte der Autor. Gleichzeitig bemängelte er den Föderalismus in der deutschen Bildungspolitik: „Ein zentrales Bildungsministerium wäre handlungsfähiger als sechzehn einzelne.“
Konkrete Hilfe
Allerdings liege das Problem nicht nur in der Schule, führte der Jugendpastor aus. Auch mehr zuarbeitende Sozialarbeit sei nötig. „Ich erlebe in problematischen Familien oft, dass am Monatsende schlicht kein Geld für Lebensmittel da ist“, erzählte er. Dann helfe keine Systemdiskussion, sondern er müsse finanzielle Unterstützung leisten. Die Hilfe müsse eben konkret da ankommen, wo sie gebraucht werde.
Eine weitere zentrale Forderung Siggelkows ist die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz. Dafür gebe es zwar in allen Fraktionen des Bundestages Vorkämpfer, aber für die meisten Politiker sei das Thema uninteressant, berichtete er. „Arme Kinder haben keine Lobby. Wir wollen ihnen eine Grundlage schaffen, ihre Rechte einzuklagen“, begründete er sein Ansinnen. Man müsse jetzt in Kinder investieren, um in Zukunft von ihren Leistungen profitieren zu können.
Info:
„Deutschlands verlorene Kinder: Warum unser Bildungssystem Verlierer produziert“ von Bernd Siggelkow und Wolfgang Büscher ist im rowohlt Verlag erschienen und kostet 14,95 Euro.
studiert Germanistik und Buchwissenschaften in Mainz. Im Sommer 2012 absolvierte sie ein Praktikum beim vorwärts.