Kultur

„Drei Winter“: Heimatfilm über eine Liebe am Abgrund

Zwei Menschen kämpfen gegen alle Widerstände um ihr Glück: Vor dem Hintergrund einer einschüchternden Natur erzählt das Kinodrama „Drei Winter“ von einer tragischen Liebe in den Schweizer Alpen.
von ohne Autor · 9. Dezember 2022
Die Liebe von Anna (Michèle Brand) und Marco (Simon Wisler) wird zur schweren Prüfung.
Die Liebe von Anna (Michèle Brand) und Marco (Simon Wisler) wird zur schweren Prüfung.

Auf den ersten Blick ist Marco ist das, was ein „Berg von einem Mann“ genannt wird: groß, bullig und nicht gerade gesprächig. Das Erste, was wir von ihm zu sehen kriegen, ist sein mächtiger Rücken. Auf einer Schweizer Alm treibt er Zaunpflöcke ins Erdreich. Stoisch erträgt der Mann im Unterhemd die harte Arbeit unter sengender Sonne. Eine Szene später wirkt Marco geradezu zart. Wie er da am Kneipentisch sein halbvolles Glas Eistee anglotzt. Wie er er aufblüht, als die Kellnerin ihn zärtlich berührt

Der Zugezogene wird niemals ganz dazugehören

Die Kellnerin ist seine Freundin. Anna und Marco sind schon länger ein Paar. Sie wollen heiraten. Anna, die Tochter der Gastwirtin. Aus einer früheren Beziehung hat sie ein kleines Mädchen. Selbstbewusst bewegt sie sich in der von Männern dominierten Bergbauernwelt, wo die Jahre in Wintern gezählt werden. Marco, der Zugezogene aus dem „Flachland“. Anpacken, das kann er. Trotzdem wird er selbst aus Sicht wohlwollender Dorfbewohner*innen niemals ganz dazugehören. Ausgerechnet dieser Sonderling, der mit Kühen kuschelt, angelt sich die von vielen begehrte junge Frau.

Anna und Marco halten ihr Glück, das sie kaum fassen können, gegen alle Widerstände fest. Es läuten die Hochzeitsglocken. Dass dieses Glück nicht von allzu langer Dauer sein wird, ist da längst zu ahnen.

Heimatfilm im modernen Sinne

„Drei Winter“ ist als Heimatfilm im modernen Sinne zu verstehen. Präzise und ausdauernd beschreibt der Schweizer Regisseur und Drehbuchautor Michael Koch das Leben in einer kleinen Berggemeinde im Rhythmus der Jahreszeiten. Es ist eine Welt der Stille und Langsamkeit. Von erhabener Schönheit ist die Natur rund um das Dorf.

Für die Menschen ist diese Welt vor allem mit Arbeit und Entbehrung verbunden. Klare Regeln und Erwartungen prägen das Zusammenleben. Groß ist die Angst, dass das gewohnte Gefüge aus dem Tritt gerät, auch wenn das Tagwerk mit Gleichmut verrichtet wird.

Ausgiebige Einstellungen fangen die bäuerliche – und zum Teil auch archaische – Routine und eine Umgebung von unterkühlt anmutender Pracht ein. Diese weitgehend dokumentarischen Bilder jenseits von Postkartenmotiven bevorzugen pointierte Bildausschnitte und Perspektiven, anstatt das Bergpanorama im Breitwandformat abzulichten.

Grundlegende Fragen

Sie bilden die Grundlage für eine fiktive und zugleich sehr lebensnahe Handlung, die sich grundlegenden menschlichen Fragen widmet. Zum Beispiel: Wie geht man mit Dingen um, die sich nicht beherrschen lassen, etwa mit Naturgewalten? Oder mit Krankheit und Tod? Zugleich schwingt die Frage mit, ob und wie eine gewachsene Gemeinschaft Veränderungen verkraftet.

All das schwingt in der letztendlich tragischen Geschichte von Annas und Marcos Liebe mit. Eine Krebsdiagnose lässt all die schönen Träume zerplatzen. In Marcos Kopf wächst ein Tumor. Trotz Operation schreitet die Krankheit voran. Marcos Persönlichkeit verändert sich. Immer öfter verliert er die Selbstkontrolle. Das Zusammenleben von Anna, ihrer Tochter Julia und Marco wird zu einer ständigen Belastungsprobe. Auch die Menschen um sie herum tragen dazu bei, dass die Situation für die kleine Familie zunehmend verfahren wird.

Entsprechend seinem dokumentarischen Anspruch, das „echte Bergleben“ zu zeigen, wurde „Drei Winter“ ausschließlich mit Laiendarsteller*innen gedreht. Das Casting nahm mehrere Jahre in Anspruch. Sowohl Michèle Brand als Anna als auch Simon Wisler (Marco) sind ein Glücksgriff. Wisler, im echten Leben Landwirt, agiert vor der Kamera so, als hätte er nie etwas anderes getan. Meist ist seine kantige Gestalt, die sein äußerst sensibles Innere kontrastiert, von der Seite oder von hinten zu sehen. Als würde Marco nicht nur mit der für ihn neuen Welt, sondern auch mit der Kamera fremdeln. Anna wirkt in ihrer sehnsüchtigen Zartheit anfangs zerbrechlich. Mit fortlaufender Handlung ist es allerdings an ihr, extreme Erfahrungen zu meistern und Standfestigkeit zu beweisen.

Magie der Berge

Angesichts der Aussparungen, die die elliptische Erzählweise mit sich bringt, erschließt sich nicht jede Szene sofort. Manche Situationen wirken anfangs rätselhaft und völlig offen. Umso besser können sich die nuancierte Bildsprache mit ihrem naturalistischen Fokus auf die Magie der Berge und die Psychologie der Hauptfiguren entfalten. Das Wissen erschließt sich weniger über Dialoge in Schweizer Mundart, sondern über das Sehen. Gerade dadurch packt uns „Drei Winter“ mit voller Wucht. Wie in griechischen Tragödien üblich, ordnet ein Chor das Geschehen immer wieder ein.

Michael Kochs zweiter Spielfilm fand beim vergangenen Berlinale-Wettbewerb lobende Erwähnung. Die Schweiz schickt ihn unter dem internatonalen Titel „A Piece Of Haeven“ ins Rennen um die Oscars des Jahres 2023. Egal, wie die Sache ausgeht: Für Aufsehen dürfte dieser ebenso bildgewaltige wie fein beobachtende Film über eine menschliche Tragödie inmitten einer Szenerie, die den Menschen ziemlich klein aussehen lässt, in jedem Fall sorgen.

Info: „Drei Winter“ („Drii Winter“, Schweiz 2021), ein Film von Michael Koch, Kamera: Armin Dierolf, mit Michèle Brand, Simon Wisler u.a., 136 Minuten, FSK ab 16 Jahre. Kinostart: 15. Dezember

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