Dokumentarfilm: Wo psychisch Kranke in Freiburg Hoffnung schöpfen
Das Lied klingt fröhlich, doch es erzählt eine traurige Geschichte. Es geht um Pflegekräfte, die eine junge Frau an einem Bett festschnallen, nur weil sie sich beide Hände vors Gesicht gehalten hat. Es ist eine Geschichte aus der Psychiatrie. Die Frau, die zur Gitarre singt, hat sie selbst erlebt.
Anschluss, Struktur und praktische Unterstützung im Alltag
Die Musikerin mit dem leuchtend roten Haarschopf nennt sich Flora Florenz. Regelmäßig besucht sie die Tagesstätte der Freiburger Hilfsgemeinschaft. In einem Altbau mitten in der Universitätsstadt kommen Menschen zusammen, die an einer psychischen Erkrankung leiden. Dort finden sie Anschluss, Struktur und praktische Unterstützung im Alltag.
Der Dokumentarfilm „Irre oder Der Hahn ist tot“ stellt Flora Florenz und andere Besucher*innen vor. Es sind Menschen, die in konventionellen psychiatrischen Einrichtungen zum Teil negative, wenn nicht gar leidvolle Erfahrungen gemacht haben und nun einen ganz anderen Umgang erfahren: auf Augenhöhe, wie es so schön heißt. Besucher*innen sprechen von „Zuhause“ und „Familie“.
Klischees und Tabus
Was sogenannte Geisteskrankheiten betrifft, herrschen in großen Teilen der Öffentlichkeit noch immer viele Klischees und Tabus vor. Daher ließ es aufhorchen, dass bei der diesjährigen Berlinale ein Wettbewerbsbeitrag über eine psychiatrische Tagesklinik in Paris mit dem Goldenen Bären für den besten Film ausgezeichnet wurde: der französische Dokumentarfilm „Sur L'Adamant“.
„Irre oder Der Hahn ist tot“ könnte dazu beitragen, mit falschen Vorstellungen über Menschen mit einer psychischen Erkrankung und ihr Potenzial aufzuräumen. Der Film knüpft an einen Dokumentarfilm über die Freiburger Hilfsgemeinschaft an. Diese setzt sich für Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung oder psychischer Beeinträchtigung ein. Entstanden ist sie in den 70er-Jahren im Zuge der Antipsychiatrie-Bewegung.
In der aktuellen Produktion stehen nicht der Verein und seine Anlaufstellen, sondern die Menschen, die sich dort versammeln, im Mittelpunkt. Sie leiden an einer Psychose, einer Depression oder Angststörungen. Vor der Kamera geben sie intime Einblicke in ihr Leben, auch in ihr Seelenleben. Sie beschreiben, wie die Krankheit sie aus der Bahn geworfen hat und wie sich jetzt ins Leben zurück arbeiten. Manche tun das auch mit Musik, so wie Flora Florenz.
Gedemütigt und bevormundet
Fast immer schwingt in den Erzählungen Kritik an der klassischen Psychiatrie mit. Menschen fühlten sich an den entsprechenden Orten gedemütigt, bevormundet, und im Stich gelassen. Vor allem: nicht gesehen. „Die mit ihrem perfekten Leben wollten mir mein kaputtes erklären“, berichtet Olli. Auch er zählt zu den Gesichtern der Tagesstätte. Mittlerweile nicht mehr als Besucher, sondern als angehender Genesungshelfer. Der ehemalige Postzusteller will anderen Erkrankten dabei helfen, mit ihrer Krankheit ein geregeltes Leben zu führen. Auch andere Betroffene haben unter dem Dach der Freiburger Hilfsgemeinschaft eine Aufgabe und damit eine Perspektive gefunden. Darin steckt eine zentrale Botschaft.
Dem Film von Reinhild Dettmer-Finke ist das große Vertrauen zwischen Auftretenden und Crew anzumerken. In den schnörkellos eingefangenen Szenen kommen fast ausschließlich psychisch kranke Menschen zu Wort. Das hat etwas von einer Nabelschau, ist aber durchweg aufschlussreich und berührend. Die meist sehr reflektiert vorgetragenen Lebensgeschichten machen deutlich, dass seelisches Leid jeden und jede treffen kann. Und dass es – vor allem mit Blick auf den Langzeitverlauf der Krankheiten – eine individuell angelegte Therapie braucht, die mehr umfasst als das Verabreichen von Psychopharmaka.
Die Regisseurin und Drehbuchautorin lässt die Kritik an staatlichen psychiatrischen Kliniken so stehen und verzichtet auch sonst auf einordnende oder ergänzende Informationen. Die Vorwürfe der Betroffenen wiegen allerdings schwer. Umso mehr erscheint die Arbeit der Freiburger Hilfsgemeinschaft als ein attraktives Modell. Es wäre zu wünschen, dass der Film – er entstand in Kooperation mit der Freiburger Hilfsgemeinschaft und der Aktion Mensch – eine gesellschaftliche Debatte über dieses Thema anstößt.
Info: „Irre oder Der Hahn ist tot“ (D 2022), ein Film von Reinhild Dettmer-Finke, 78 Minuten.