Kultur

Doku „Tanja – Tagebuch einer Guerillera“: Gesichter einer Kämpferin

Eigentlich Stoff für „großes Kino“: Der Dokufilm „Tanja – Tagebuch einer Guerillera“ zeichnet die Erlebnisse einer jungen Niederländerin im kolumbianischen Bürgerkrieg nach. Trotz des Friedensabkommens ist diese Geschichte längst nicht auserzählt.
von ohne Autor · 16. Juni 2023
Trotz allem ein Lächeln: Tanja Nijmeijer war das Gesicht der wohl mächtigsten Guerilla der Welt.
Trotz allem ein Lächeln: Tanja Nijmeijer war das Gesicht der wohl mächtigsten Guerilla der Welt.

Der Lebensweg von Tanja Nijmeijer beflügelt die Fantasie. Daher verwundert es, dass ihre Biografie nicht längst Gegenstand eines actionreichen Blockbusters geworden ist, sondern ausschließlich von Dokumentarfilmen. Der Regisseur und Drehbuchautor Marcel Mettelsiefen setzt den Reigen nun fort.

Der längste Bürgerkrieg Lateinamerikas

Anfang der Nullerjahre kommt Nijmeijer nach Kolumbien. Dort gerät sie in den Strudel des längsten Bürgerkrieges Lateinamerikas. Die junge Niederländerin schließt sich der linksgerichteten Guerilla FARC an. Diese kämpft gegen die Armee und rechte Paramilitärs. Zugleich terrorisiert sie die Zivilbevölkerung und ist in den Drogenhandel verstrickt.

Zunächst arbeitet die frischgebackene Uni-Absolventin als Übersetzerin und Dolmetscherin, später nimmt sie auch an Kampfhandlungen teil. Sie geht in den Dschungel. Rasch steigt sie in der Hierarchie auf und wird zur rechten Hand des FARC-Vizes. Als Frau und Ausländerin entwickelt sie sich zu einem prominenten, aber auch einflussreichen Aushängeschild ihrer Bewegung. Sogar von „Popstar“ ist die Rede.

Unbedarfte, aber idealistische Anfänge

Mettelsiefens Film rekonstruiert und analysiert diesen dramatischen Lebensabschnitt Nijmeijers im Rückblick und aus dem Blickwinkel verschiedener Akteur*innen. Auch nach dem offiziellen Ende des Konfliktes hat sie mit der Zeit im Untergrund längst nicht abgeschlossen. Der Fokus reicht von den unbedarften, aber idealistischen Anfängen einer Europäerin in dem Bürgerkriegsland über ihre Rolle als Teil der FARC-Delegation während der Friedensverhandlungen mit der Regierung bis in die Gegenwart. Es ist die Geschichte einer Überzeugungstäterin, die sich vom bewaffneten Kampf losgesagt hat, nicht aber von ihren politischen Intentionen.

Tanja Nijmeijers Biografie ist voller radikaler Wendungen. Mit 24 Jahren bricht sie alle Brücken zu ihrem bisherigen Leben in der niederländischen Provinz ab. Nach dem Friedensabkommen bleibt ihr die Rückkehr in ein normales Leben in Europa und damit – im Gegensatz zu vielen anderen Ex-Kombattant*innen – ein vollumfänglicher Neuanfang verwehrt. Sie ist international zur Fahndung ausgeschrieben. Die USA werfen ihr vor, 2003 für die Verschleppung von drei US-Bürgern verantwortlich zu sein, die mit einem Flugzeug in Kolumbien abgestürzt waren.

Gefährliche Enthüllungen: Korrption und Sex

Zu jenen Wendungen zählt ein Ereignis, das Nijmeijer im Jahr 2007 schlagartig international bekannt gemacht und entscheidendes Quellenmaterial für diesen Film zutage gefördert hat. Bei einem Angriff auf einen Stützpunkt der FARC wurden Nijmeijers Tagebücher gefunden. In ihren Aufzeichnungen zeichnete sie einen desillusionierten Eindruck des Alltags in der angeblich weltweit größten Guerilla-Bewegung. Unter anderem ging es um Korruption und sexuelle Abenteuer unter ihren männlichen Kommandeuren. Das sorgte für Schlagzeilen. Nijmeijer wurde zum Star der Medien. Die fragten sich: Wie war es möglich, dass sie diese Enthüllungen überlebt hat?

Gibt es einen gerechten Krieg?

Dieser Frage widmet sich auch Mettelsiefen. Der deutsch-ecuadorianische Filmemacher – unter anderem ausgezeichnet für „Die Kinder von Aleppo“ – erforscht die Beweggründe und extremen Erfahrungen, die Nijmeijers Leben während der beiden vergangenen Jahrzehnte geprägt haben. Sein Film kommt der Protagonistin zum Teil überraschend nahe – auch und gerade durch die Konfrontation mit den Tagebuchnotizen. Internationale Medien hatten sie seinerzeit ausgiebig ausgeschlachtet.

Und doch bleibt Nijmeijer häufig unnahbar. Vor allem mit Blick auf gewaltsame Aktionen der FARC gegen Zivilist*innen. Die Annäherung hinterlässt viele Leerstellen. Die Selbstreflexion (ehemaliger) Überzeugungstäter*innen hat offenbar Grenzen – man kennt dies auch aus anderen politischen und historischen Kontexten. Stets schwingt die Frage mit: Gibt es einen gerechten Krieg?

Alltag im Regenwald

Beeindruckend ist das Bildmaterial, das das alltägliche Leben der FARC-Kämpfer*innen zeigt. Einige Szenen haben wenig mit dem zu tun, was man gemeinhin mit einem straff organisierten Dschungelkrieg verbindet. Ein Teil der Bilder lässt vermuten, dass sie aus dem Fundus der Guerilla stammt. Ein Großteil der Aufnahmen aus dem Regenwald geht auf einen kolumbianischen Journalisten zurück, der sich schon vor Jahren auf Nijmeijers Spuren begeben hatte.

Daneben kommen auch weitere Ausschnitte aus Vorgängerwerken über Nijmeijer zum Einsatz. So begleitete ein niederländischer Dokumentarfilmer Nijmeijers Mutter auf der Suche nach ihrer Tochter in Kolumbien. Es wäre zu wünschen gewesen, dass Mettelsiefen seine Bildquellen deutlicher benannt und damit den Zuschauenden die Orientierung in der Bilderflut erleichtert hätte.

Ihr Kampf geht weiter

So oder so wird deutlich, wie Nijmeijer über die Jahre zu einer öffentlichen Figur wurde, die Vereinnahmungen, einseitigen Darstellungen und – ihrer Darstellung nach – falschen Anschuldigungen ausgesetzt ist. Gegen all das wehrt sich die mittlerweile 45-Jährige bis heute. Ihr Kampf geht weiter. Ohne Waffen.

Info: „Tanja – Tagebuch einer Guerillera“ (Deutschland 2023), ein Film von Marcel Mettelsiefen, 84 Minuten, OmU, ab 12 Jahre.
https://mindjazz-pictures.de/filme/tanja/
Im Kino

0 Kommentare
Noch keine Kommentare