Doku „Nicht VerRecken“: Wie sich frühere KZ-Häftlinge erinnern
Viele von ihnen waren noch nicht richtig erwachsen, aber schon gezeichnet fürs Leben. In dem Film von Martin Gressmann („Das Gelände“) erzählen ehemalige Insass*innen deutscher Konzentrationslager von den Todesmärschen im Frühjahr 1945. Als die US-Army von der einen und die Rote Armee von der anderen Seite an Brandenburg und Mecklenburg heranrückten, trieb die SS rund 50.000 Männer und Frauen von den Lagern Sachsenhausen und Ravensbrück Richtung Ostsee.
Wer nicht mehr laufen konnte, wurde erschossen
Brutalität und Elend kannten auf diesem Weg, meist weitab von Ortschaften und den Blicken der Bewohner*innen, keine Grenzen. Wer von diesen ausgezehrten Gestalten nicht mehr laufen konnte, wurde erschossen. Die Menschen aus den nachfolgenden Gruppen stiegen über ihre Leichen. Zu essen gab es das, was bei der Rast im Wald zu finden war. Wenn die vorangegangenen Kolonnen etwas übrig gelassen haben.
Es war ein Weg, an dessen Ende die Häftlinge mit dem Schlimmsten rechnen mussten. Doch es kam anders. Auch die unverhoffte Freiheit und die Wirren des Neuanfangs kommen in den Interviews mit den Hochbetagten, die aus verschiedenen europäischen Ländern stammen, zum Tragen. Für befreite Bürger*innen aus der Sowjetunion begann dieser Neuanfang in der Regel damit, als vermeintliche Spion*innen in Stalins Lagern zu landen.
Ehemalige Gefangene erinnern sich
Im Zentrum stehen allerdings die Todesmärsche und ihre Vorgeschichte. Der 1953 geborene Filmemacher nähert sich dem Geschehen im Wesentlichen über die Erinnerungen der ehemaligen Gefangenen (es sind ausschließlich Männer). Viele Gespräche führte der Regisseur und Drehbuchautor im Jahr 2015 am Rande der Eröffnung der Gedenkstätte Todesmarsch im Belower Wald. An ihrem Standort in einem Wald bei Wittstock vegetierten im April 1945 Tausende Menschen in einem provisorischen Lager vor sich hin.
Im Grunde wäre jede Biografie, die skizziert wird, einen eigenen Film wert. Für Simcha Applebaum gilt das umso mehr. 1927 wurde er im heutigen Belarus geboren. Seine gesamte Familie wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet. Er selbst überlebte das Vernichtungslager und den Todesmarsch von dort gen Westen. Und auch den Marsch von Sachsenhausen nach Schwerin. Später ging er nach Israel und kämpfte als Soldat in vier Kriegen.
Eine geografische Suche
Viele solcher Details muss man allerdings dem Pressheft entnehmen. Im Sinne des Erzählflusses und vor dem Hintergrund der großen Zahl an Befragten, die trotz ihrer traumatischen Erfahrung meist durch eine ausgesprochene Zugewandtheit und Sachlichkeit überraschen, werden diese nicht näher vorgestellt. Was für einen Film, der historisches Geschehen anschaulich machen möchte, nicht unbedingt eine glückliche Entscheidung ist.
„Nicht VerRecken“ ist aber auch eine Spurensuche im geografischen Sinne. Für sein über mehrere Jahre hinweg entstandenes Werk verfolgte Martin Gressmann die Routen der Todesmärsche. Entlang von Landstraßen und in Wäldern, aber auch in Kleinstädten und Dörfern, suchte er nach Hinweisen auf das Geschehen während des grausamen Schlusskapitels des NS-Staates. Hilfreich war die Tatsache, dass schon zu DDR-Zeiten entsprechende Gedenkplaketten an Hausfassaden angebracht wurden.
Auf Himmlers Spuren
Manch eine Überraschung kommt dabei ans Licht. Das gilt auch für die Spuren von Heinrich Himmler. Kurz vor Kriegsende war er, wenn man so will, in mehrfacher Mission in der Region nördlich von Berlin unterwegs. Der Reichsführer SS stand an der Spitze des KZ-Systems und war somit der Hauptverantwortliche für das Elend der Todesmärsche. Als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel oblag ihm die militärische Abwehr der sowjetischen Truppen.
Zeitgleich knüpfte er diplomatische Kontakte Richtung Westen. Die Menschen der Todesmärsche wurden zum Faustpfand. Martin Gressmann hat sich daran gemacht, zu rekonstruieren, zwischen welchen Schauplätzen Himmler mit seinem Stab in dieser chaotischen Zeit pendelte. Dadurch entsteht eine weitere Erzählebene. Ist der SS-Chef mit seiner Wagenkolonne womöglich auf einen Häftlingstross getroffen? Das Kopfkino funktioniert bestens.
Hinzu kommt eine zusätzliche Perspektive: Zeitzeug*innen berichten, wie sie als Kinder und Jugendliche die Gruppen der Elenden und die Situation um sie herum wahrnahmen, wenn sie an ihren Häusern vorbeizogen. Aus all diesen Gesprächen und Vorort-Recherchen ergibt sich am Ende eine Topografie dieses „Europas im Kleinen“, wie Martin Gressmann es formuliert.
Verstehen wollen
Wissen wollen, verstehen wollen und die Erinnerung bewahren: Diese Haltung, die vorangegangene Generationen im Hinblick auf die Nazizeit häufig verweigerten, prägt diesen spröden und leise inszenierten Dokumentarfilm über ein Thema, das beim Blick auf den Holocaust oft unter dem Radar bleibt. Was Simcha Applebaum und seine Leidensgenossen zu sagen haben, ist aufwühlend und Anklage genug.