Kultur

Doku „Bildungsgang“: Warum junge Menschen für bessere Schulen kämpfen

Mehr Selbstbestimmung statt „Massenschülerhaltung“ zu – das fordert die „Demokratischen Stimme der Jugend“. Der Dokumentarfilm „Bildungsgang“ stellt eine Protestbewegung vor, die mit schrillen Methoden das deutsche Bildungssystem hinterfragt.
von ohne Autor · 8. Juni 2023
Bunt und provokant sind die Aktionen der „Demokratischen Stimme der Jugend“ für eine bessere Bildung an deutschen Schulen
Bunt und provokant sind die Aktionen der „Demokratischen Stimme der Jugend“ für eine bessere Bildung an deutschen Schulen

Für das junge Mädchen gibt es kein Entrinnen. Menschen in weißen Schutzanzügen haben es in einem käfigartigen Gebilde eingekreist. Sie lassen vollgeschriebene Zettel auf ihr Opfer hinunterflattern, bis es unter der Last der Indoktrination zusammenbricht.

NGO: Demokratische Stimme der Jugend

Was sich hier zuträgt, ist Teil einer Performance der „Demokratischen Stimme der Jugend“. Sie gehört zu einer Reihe von Protestaktionen, mit denen die Nichtregierungsorganisation (NGO) ihren Forderungen nach einer revolutionären Umgestaltung der deutschen Bildungslandschaft eintritt. Die Situation im Käfig steht symbolisch für den Schulalltag, wie ihn die jungen Aktivist*innen sehen.

Für seinen kürzlich im Kino angelaufenen Dokumentarfilm „Bildungsgang“ hat Regisseur und Co-Produzent Simon Marian Hoffmann die Entstehung der Bewegung im Südwesten Deutschlands vier Jahre lang begleitet. Einen der Höhepunkte stellte der „Bildungsgang“ betitelte Demonstrationszug durch die Stuttgarter Innenstadt bis vor das CDU-geführte Kultusministerium im Herbst 2017 dar. Aus Sicht der NGO, die sich aus Schüler*innen und Schulabgänger*innen rekrutiert, war das alles allerdings nur der Anfang.

Talente fördern, Bedürfnisse wahrnehmen

Hoffmann, Jahrgang 1996, ist ein Teil dieser Bewegung. Da kann es kaum verwundern, dass die in Eigenregie und ohne öffentliche Förderung entstandene Produktion alles andere als ein „objektiver“ Dokumentarfilm ist. Es handelt sich um ein Manifest, das durch den Blick nach innen die Kernforderungen der „Demokratischen Stimme der Jugend“ vertritt: mehr Mitbestimmung für Schüler*innen an den Schulen und weniger staatliche Vorgaben für den Unterricht. Mehr Projektarbeit und weniger Frontalunterricht. Mehr Raum zur Förderung individueller Talente und für die Bedürfnisse der Heranwachsenden. Ein „Bildungsbrief“ soll all die persönlichen Kompetenzen dokumentieren, die das traditionelle Notensystem nicht berücksichtigt. Kurzum: Schulen sollen sich von staatlichen Institutionen zu freien Bildungseinrichtung wandeln.

„Ich wünsche mir eine Bildung, wo ich mich nicht verbiegen muss und wo ich meinen Weg gehen kann“, fasst eine Aktivistin ihr Grundanliegen zusammen. Bislang, so der Tenor auch anderer Einlassungen, seien deutsche Schulen vor allem auf die Erziehung zur Konformität und damit letztendlich auf die Reproduktion der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse ausgerichtet. Angesichts der Krisen unserer Zeit brauche es aber einen anderen Blick des Menschen auf sich und die Welt. Genau den sollen „zeitgemäße“ Schulen vermitteln.

Zeitgemäße Schulen

Doch wie sollen die Schulen von morgen aussehen? „Bildungsgang“ bleibt im Vagen und fokussiert sich auf die Kritik an den Schulen von heute. Die Collage aus Gesprächsausschnitten, Szenen von öffentlichen Aktionen und eigens produzierten Musikvideos bietet viele Querverweise zwischen dem Gesagten und dem Visuellen. Immer wieder kommt dabei das bunte und provokante Grundwesen dieses Bildungsprotestes zum Ausdruck, so beispielsweise in dem Begriff „Massenschülerhaltung“.

Diese Formulierung griff die frühere baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) auf, als sie wenig diplomatisch auf die Kundgebung vor ihrer Haustür in Stuttgart reagierte. Immerhin ist sie die einzige kritische Stimme, die in dem Film zu Wort kommt. Kritiker*nnen gibt es reichlich. Manche werfen der NGO Nähe zu demokratiefeindlichen Verschwörungstheoretikern und sogenannten Querdenkern vor. Die „Demokratische Stimme der Jugend“ bestreitet solche Verbindungen und betont ihr Eintreten für Gleichberechtigung und Gerechtigkeit und gegen Rassismus und „Deprivilegierung“.

„Bildungsgang“ zeigt aber auch, wie breit die „Demokratische Stimme der Jugend“ mittlerweile aufgestellt ist. Neben Vorträgen, Workshops und Seminaren zählt auch Lobbyarbeit im Deutschen Bundestag zu ihren Aktivitäten. Man muss weder die sehr pauschale Kritik am Bildungssystem der Bundesrepublik noch die weitreichenden Reformideen uneingeschränkt teilen, um diesem Dokumentarfilm etwas abzugewinnen. Dass Deutschlands Schullandschaft an vielen Stellen besser aufgestellt sein muss, um insbesondere Kindern aus benachteiligten Familien mehr Chancen zu bieten, aber auch, um im Allgemeinen fit für die Zukunft zu sein, ist unbestritten.

Viel zu oft fällt in der öffentlichen Debatte die Sicht jener Menschen unter den Tisch, die direkt betroffen sind oder es bis vor Kurzem noch waren. Es sind die Schüler*innen beziehungsweise die Absolvent*innen. Und auch eine erschreckend hohe Anzahl an Schulabbrecher*innen. „Bildungsgang“ schließt diese Lücke, und das durchaus mit Chuzpe.

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