Kultur

Die verborgene Armut

von Angelo Algieri · 30. April 2012

Jeder siebte Deutsche ist von Armut bedroht. Laut Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes von 2011 hat sich diese Zahl – trotz Wirtschaftsaufschwungs – in den letzten Jahren nicht reduziert. Die Journalistin Adelheid Wedel zeigt in ihrem Buch „Armut hier und heute“ die Menschen hinter diesen Zahlen.

Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens hat. 2010 waren das bei Singles weniger als 826 Euro pro Monat, bei Familien weniger als 1.735 Euro pro Monat. Gefährdet ist vor allem wer arbeitslos, alleinerziehend oder weiblich ist. Jugendliche und Singles sind häufiger von Armut betroffen. Fakten wie diese stehen in Adelheid Wedels Buch. Vor allem aber schaut sie auch hinter die spröden, anonymen Zahlen: Sie sprach mit acht Menschen, die am Existenzminimum krebsen. Wobei sie die extrem Armen – etwa die Obdachlosen – ausgespart hat, bei ihnen sei das Problem offenkundig, erklärt sie im Vorwort.

Jobverlust, Aushilfsjobs, Altersarmut

So stellt Wedel die 67-jährige Rentnerin Gabi vor. Sie lebt in Potsdam, war zu DDR-Zeiten leidenschaftliche Bibliothekarin, nach der Wende wurde sie arbeitslos. Sie begann sich als Putzhilfe oder mit Schreibarbeiten durchzuschlagen. Das geringe Einkommen reichte kaum für die extrem erhöhten Lebenshaltungskosten. Dabei hatte sie damals ihren jüngsten Sohn zu versorgen. Dann wurde sie krank: Depression. Durchstarten konnte sie danach nicht mehr; sie war zu alt für den Arbeitsmarkt. Nun bezieht sie eine niedrige Rente und muss jeden Cent umdrehen.

Vielen Interviewpartnern Wedels geht es ähnlich wie Gabi. Die meisten sind aus Ostdeutschland und verloren kurz nach der Deutschen Vereinigung ihren Arbeitsplatz. Es folgten ABM-Stellen und Krankheiten, meist Depressionen und/oder Alkoholsucht. Dazu kommt Ärger mit den Sozialbehörden. Am Ende der Geschichten steht die Altersarmut. Neben materiellen Einbußen sind viele von ihnen psychisch gebrochen, desillusioniert oder fühlen sich unbrauchbar. Von kulturellen Veranstaltungen sind sie ebenso ausgeschlossen wie von Urlauben.

Armut in der Mitte der Gesellschaft

Adelheid Wedel, Jahrgang 1944, zeigt in acht Beispielen wie vielschichtig und breit gefächert die Armutsgefahr in Deutschland ist. Man merkt, wie sie sich mit aufrichtiger Empathie den Personen annähert – ohne aufdringlich zu sein oder sie zu bemitleiden. Schade nur, dass nur zwei Westdeutsche befragt wurden und nur eine Interviewpartnerin jünger als 30 ist. Für ein Buch, das im Untertitel „Ein Deutschlandreport“ heißt, ist das zu wenig. Auch der Impetus der Journalistin, dass der Staat stets paternalistisch eine Arbeit vermitteln müsse, wirkt letztlich ermüdend.

Dennoch: Autorin Wedel legt den Finger auf die Wunde. Sie zeigt, dass Armut längst mitten in der Gesellschaft angekommen ist. Für viele ist sie unsichtbar. Andere sind in ihrer täglichen Arbeit mit Betroffenen konfrontiert. Wedel gibt diesen Menschen Raum, ihre Beschreibungen von außen öffnen neue Blickwinkel. So erzählen etwa eine Lehrerin oder ein Zahnarzt von ihren täglichen Begegnungen mit der Armut von Menschen. Andere liefern Vorschläge, wie diese bekämpft werden kann. So plädiert beispielsweise der dm-Gründer Götz Werner für das Bedingungslose Grundeinkommen.

Mit diesen Beiträgen liefert Wedel zu der Innensicht, den Berichten von Betroffenen, noch die Außensicht auf Armut in dieser Gesellschaft. Im Anhang stehen zusätzlich hilfreiche Informationen zu 35 Organisationen, die sich gegen Armut engagieren. Das rundet das Buch ab, das bei keiner tiefgehenden Armuts-Diskussion fehlen darf.

Adelheid Wedel: „Armut hier und heute. Ein Deutschlandreport“ Mit Beiträgen von Friedrich Schorlemmer, Götz Werner u.a. Militzke Verlag, Leipzig 2012. 224 Seiten. 19,99 Euro, ISBN 978-3-86189-851-1

Autor*in
Avatar
Angelo Algieri

ist freier Journalist.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare