Kultur

Die Verantwortung des Einzelnen

von Jeannette Oholi · 2. April 2014

Das Leben in einer ostdeutschen Kleinstadt gerät aus den Fugen, als eine jüdische Erbengemeinschaft Restitutionsansprüche auf eine ganze Straße erhebt. Kathrin Gerlof erzählt in ihrem Roman „Das ist eine Geschichte“ von der Vergangenheit und der Verantwortung, die jeder für sie übernehmen muss.

Schauplatz des Romans ist die Salomon-Weinreb-Straße in Warenberg, eine Kleinstadt in Ostdeutschland. Die Bewohner kümmern sich hingebungsvoll um ihre Häuser und Gärten, beobachten jeden Fremden argwöhnisch und lieben den Tratsch. Die Idylle wird gerstört, als die Nachkommen der jüdischen Brüder Salomon und Hermann Weinreb Restitutionsansprüche auf die Grundstücke erheben. Die Brüder waren bereits tot, als Hitler in Deutschland an die Macht kam. Im Jahr 1938 packten ihre Nachkommen die Koffer, verkauften die Grundstücke und flohen aus Deutschland.

Verteidigung des Besitzes

Unter allen Umständen wollen die heutigen Bewohner der Straße ihren Besitz verteidigen und schließen sich zu einer Bürgerinitiative zusammen. Ein Gutachten soll beweisen, dass der Verkauf 1938 nicht unter Zwang, sondern rechtmäßig geschah. Wütende Leserbriefe werden an die Lokalzeitung geschrieben, die Bewohner stellen eigene Nachforschungen an – über die Vergangenheit ihrer Familien und über die jüdische Erbengemeinschaft. „Der ganze Ort war eine einzige große Geschichtenwerkstatt geworden, nur dass die Intention dieses Eifers wahlweise für richtig oder falsch gehalten werden konnte.“

Verantwortung übernehmen

Im Kampf um das Eigentum werden nur wenige Stimmen laut, die nach der Verantwortung gegenüber der Vergangenheit fragen. Die meisten sehen die Verantwortung nicht bei sich. Kathrin Gerlof beschreibt die Existenzängste der einzelnen Bewohner und ihre Verzweiflung aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie wirft einen beinahe liebevollen Blick hinter die Fassaden der Salomon-Weinreb-Straße. Aus dem Off  melden sich immer wieder die Brüder Weinreb, die die Gegenwart kommentieren und von ihrem Leben im Deutschen Kaiserreich erzählen.

Kathrin Gerlof ist ein vielschichtiger Roman gelungen. Sie wirft einen Blick auf die deutsche Gesellschaft und den Umgang mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit. Dabei zeigt die Autorin wie wichtig es ist, dass jeder Einzelne Verantwortung dafür übernimmt. Sie zeigt  aber auch die damit verbundenen Schwierigkeiten – gerade wenn es wie in Restitutionsfällen um den eigenen Besitz geht.

Die Romanfiguren bedienen sich nicht selten alter Vorurteile gegenüber Juden, um ihre Haltung und Denkweise zu rechtfertigen, beeilen sich dann aber im nächsten Satz zu betonen, sie seien keine Antisemiten. Gerlof macht mit ihrem Roman deutlich, dass die Verantwortung des Einzelnen auch darin besteht eigene Denk- und Handlungsweisen, Stereotype und Vorurteile zu hinterfragen.

Kathrin Gerlof: „Das ist eine Geschichte“, Aufbau-Verlag, Berlin 2014, 396 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-351-03563-1

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