Die Urteile der roten Roben – 60 Jahre Bundesverfassungsgericht
Der 1930 geborenen Rolf Lamprecht ist Insider in Sachen Bundesverfassungsgericht. Von 1949 bis 1953 studierte er an der " Deutschen Hochschule für Politik" in Berlin u.a. Verfassungspolitik und Verfassungsrecht. Seine Doktorarbeit schrieb er über das Sondervotum in verfassungsrechtlichen Entscheidungen. Als Korrespondent für den "Spiegel" beobachtete er von 1968 bis 1998 die Arbeit des Gerichtes und berichtete darüber. Seine Begeisterung für das Bundesverfassungsgericht verdankt Rolf Lamprecht seinem akademischen Lehrer Professor Martin Draht. Dieser war Richter der ersten Stunde, als jener begann über Recht und Justiz zu schreiben.
Der Kampf um Objektivität und Unabhängigkeit
Als einer der letzten Zeitzeugen schildert Lamprecht anhand der neun Präsidentschaften die Geschichte des Bundesverfassungsgerichtes. Faszinierend ist, wie er der Atmosphäre schildert, die zu den unterschiedlichen Zeiten am Gericht herrschte - und zuweilen besonders zwischen den Zeilen zur Geltung kommt.
1951, als das Bundesverfassungsgericht unter dem ersten Präsidenten Hermann Höpker-Aschoff seine Arbeit aufnahm, ahnte noch niemand, was für eine wichtige Rolle es als höchste Schiedsinstanz und Schutz vor der Staatsgewalt erlangen wird. Zu dieser Zeit war das Handeln zu sehr vom Zeitgeist und von politischen Einflüssen geprägt.
Auch unter Josef Wintrich, der von 1954 bis 1958 das Amt des Präsidenten bekleidete, wurden Urteile gesprochen, die Kommunisten und Pazifisten ächteten und Homosexuelle degradierten. Den Status als unabhängige und objektive Instanz musste sich das Bundesverfassungsgericht erst erkämpfen.
Die Stärkung der Bürgerrechte
Die Urteile zur Glaubensfreiheit und zur lebenslangen Freiheitsstrafe unter Ernst Benda brachten den Durchbruch bei der Stärkung der Bürgerrechte. Entscheidungen wie beispielsweise das "Kruzifix"-Urteil, die Urteile zu den Sicherheitsgesetzen und zur Abtreibung zeigen, dass das Bundesverfassungsgericht nicht nur Veränderungen beschreiben, sondern auch bewirken kann.
Mit dem derzeit amtierenden Präsidenten Andreas Voßkuhle rückt Europa in den Fokus. Das wird mit dem Urteil zum Lissabon-Vertrag deutlich. Auch wenn die Hinwendung zu Europa, wie die Entscheidung zur Sicherungsverwahrung zeigt, nicht immer konfliktfrei abläuft. Das Verhältnis der europäischen und nationalen Gerichtsbarkeit ist komplex und die Zeiten, in denen das Bundesverfassungsgericht über sich "nur noch den blauen Himmel" sah, sind vorüber.
Zur kurz kommen in Lamprechts Buch leider die Bedeutung des Verwaltungsapparates und der wissenschaftlichen Mitarbeiter. Dabei sind diese ausschlaggebend für die Arbeit des Bundesverfassungsgerichtes. Natürlich schreiben Autoritäten Geschichte und kann diese an deren Leben nachvollzogen werden. Jedoch bei einem Organ wie dem Bundesverfassungsgericht, das "Minderheiten schützen und Machtmissbrauch verhindern soll", ist dies womöglich nicht die adäquate Methode.
Trotzdem ist Lamprechts Buch sehr lesenswert, besonders auch für Nichtjuristen. Schließlich erfüllt das Bundesverfassungsgericht als Säule der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit das "Grundgesetz, das letztlich nur aus toten Buchstaben besteht, Tag für Tag mit Leben".
Rolf Lamprecht: Ich gehe bis nach Karlsruhe. Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichtes, Spiegel Buchverlag/DVA, 352 Seiten,
19,99 Euro, ISBN 978-3-421-04515-7
ist promovierte Rechtswissenschaftlerin und Journalistin. Ihre Schwerpunkte sind juristische und steuerrechtliche Themen.